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Zur Funktion des Demokratiebegriffs im Werk von Slavoj Žižek

Author: Erik Vogt (Trinity College)

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    Zur Funktion des Demokratiebegriffs im Werk von Slavoj Žižek

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Abstract

The question of democracy is not directly at the center of Slavoj Žižek's political thought. While Žižek never elaborates an affirmative theory of democracy, his work contains critical analyses of different ideas of democracy that aim at keeping open the possibility of a conception of Marxist-Leninist politics that cannot be reduced to notions of political agonism organized in a formal, liberal democratic, radical democratic or popular mode. Although Žižek's respective critiques of different notions of democracy can unearth some of their problematic alliances with the logic of capital and with certain forms of (multiculturalist) racism, this paper also points to some of the shortcomings of Žižek's engagement with Ernesto Laclau's conception of populism as a model of antagonistic politics.

Keywords: Slavoj Žižek, liberal democracy, racism, Ernesto Laclau, radical democracy, populism

How to Cite: Vogt, Erik. "Zur Funktion des Demokratiebegriffs im Werk von Slavoj Žižek." Genealogy+Critique 9, no. 1 (2023): 1–23. DOI: https://doi.org/10.16995/gc.9220

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21 Mar 2023
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Das Werk Slavoj Žižeks enthält keine affirmative Theorie der Demokratie, welche als unmittelbarer und genuiner Beitrag zu zeitgenössischen philosophisch-politischen Debatten über den Demokratiebegriff betrachtet werden könnte.1 Die Frage der Demokratie steht letzten Endes niemals im Zentrum seiner philosophisch-politischen Überlegungen, denn sie besitzt in seinen frühen Texten bestenfalls einen impliziten Status, während seine späteren Texte sich ausdrücklich an bestimmten Demokratiebegriffen kritisch abarbeiten, um die Möglichkeit einer (marxistisch-leninistischen) Politik offen zu halten, die sich nicht auf einen liberal- oder radikaldemokratisch organisierten agonistischen politischen Wettstreit reduzieren lässt.

Der vorliegende Text ist in fünf Abschnitte unterteilt. Da hier kein Raum für eine ausführliche Rekonstruktion der Entwicklung von Žižeks philosophisch-politischer Theorie ist, präsentieren die ersten drei Abschnitte auf gedrängte Art einen Text von Žižek aus dem Jahre 2002, in dem Žižek kurz und prägnant sowohl die Schwäche seines frühen – philosophischen, psychoanalytischen und politischen – Denkens kritisch resümiert als auch einen dialektisch-materialistischen Rahmen zu skizzieren beginnt, der auch noch seine rezenten Veröffentlichungen grundlegend bestimmt. Kennzeichnet seine ersten Publikationen die kaum eigens reflektierte Inanspruchnahme der Autorität des Wortes "Demokratie" (Badiou 2016, 22) vermittels einer Anlehnung an Claude Leforts Auffassung einer formalen Demokratie, die als kritischer Gegensatz zum Totalitarismus begriffen wird und die, so lautet Žižeks Supplement, zwangsläufig (nationalistisch) kontaminiert ist, aber als solche gerade den unhintergehbaren Horizont für seine frühen politischen Überlegungen darstellt, werden in nachfolgenden Veröffentlichungen der Begriff der liberalen Demokratie wie auch der Begriff der radikalen Demokratie zu expliziten Untersuchungsgegenständen des žižekianischen Diskurses. Während der vierte Abschnitt zeigt, dass dem liberalen Demokratiebegriff, den nach Žižeks traditioneller marxistischer Deutung nicht nur eine Komplizenschaft mit der Logik des Kapitals auszeichnet, die sich in der Repräsentationsstruktur der liberalen Demokratie verbirgt, sondern dem auch eine spekulative Identität von Multikulturalismus und Rassismus innewohnt, insofern beide mit einer problematischen Konzeption des Anderen operieren, skizziert der fünfte Abschnitt die in philosophisch-politischer Hinsicht vielleicht ausführlichste Auseinandersetzung Žižeks mit einer weiteren Gestalt der Demokratie: nämlich mit Ernesto Laclaus Konzeption der radikalen (und popularen) Demokratie. Hier werden abschließend sowohl Žižeks – zum Teil fragwürdige – Kritik an Laclaus politischer Theorie als auch Affinitäten zwischen Žižeks "Dehnung" bestimmter marxistisch-leninistischer Begriffe ("Klassenkampf"; "Diktatur des Proletariats") und Laclaus Konzeption des auf Antagonismen beruhenden Populismus skizziert.

1. Reales, Hegel, Demokratie revisited

In einer wichtigen Zusammenfassung und Bestandsaufnahme seines bisherigen Denkweges aus dem Jahr 2002 stellt Slavoj Žižek in Bezug auf seine ersten englischsprachigen Publikationen – wobei er vor allem Das erhabene Objekt der Ideologie im Blick hat – eine "philosophische Schwäche" seines frühen Denkens fest. Diese liege in seiner früheren "quasi-transzendentalen Lektüre von Lacan, deren Brennpunkt der Begriff des Realen als unmögliches Ding an sich bildet", mithin in einer "Ethik des Begehrens", welche den Weg "für eine Verherrlichung des Scheiterns" eröffnet habe, d.h. für die "Idee, dass jeder Akt letztlich fehlschlägt und dass die richtige ethische Haltung darin besteht, dieses Scheitern heroisch zu akzeptieren" (Žižek 2008, 10).2 Zudem gehe diese "philosophische Schwäche" mit einer "politischen Schwäche" einher, die für Žižek "in enger Verbindung mit den Überresten der liberaldemokratischen politischen Haltung" steht (Žižek 2008, 19). In den Worten Žižeks: "Ich bedurfte Jahre harter Arbeit, um diese gefährlichen Residuen bürgerlicher Ideologie klar auf drei miteinander verbundenen Ebenen zu identifizieren und zu liquidieren. Diese drei Ebenen sind: die Klärung meiner lacanianischen Hegel-Lektüre; die Ausarbeitung des Begriffs des Akts; und eine spürbare Distanz zum Demokratie-Begriff" (Žižek 2008, 19). Kurz, was Žižek hier beschreibt, ist nichts anderes als sein "harte[r] Weg zum dialektischen Materialismus" (Žižek 2008, 10).

Die erste Revision, die Žižek vornimmt, betrifft den Begriff des Realen. Wurde in seinen frühen Schriften das Reale – in deutlicher Analogie zum kantischen Ding an sich – als ein Außerhalb des Symbolischen aufgefasst, so begreift Žižek das Reale nun nicht mehr als einen externen harten Kern, der sich der Symbolisierung widersetzt, und auch nicht als eine externe Ursache der Risse und Inkonsistenzen in der symbolischen Ordnung, sondern vielmehr als internen Effekt dieser Risse und Inkonsistenzen im Symbolischen (Žižek 2008, 10–11). Das Reale stellt folglich nicht mehr einen übergeschichtlichen, harten und niemals zu symbolisierenden Kern dar – eine Art Substanz, die vor und unabhängig von Symbolisierungen bestehen und diese angeblich verzerren würde (Žižek 2008, 14). Hier zeigt sich auch, so Žižek, die Nähe zwischen (dem späten) Lacan und Hegel, d.h. Lacans Hegelianismus. Žižek vollzieht demnach hinsichtlich seiner früheren quasi-transzendentalen Lacanlektüre jene Bewegung, die Hegel gegenüber Kants Transzendentalphilosophie vollzogen hatte. Obgleich die transzendentale Kritik weiterhin ein entscheidender Ausgangspunkt bleibt, zeige gerade das Festhalten am Unterschied von Phänomenalem und Noumenalem, dass Kant nicht die letzten Konsequenzen aus seinem Bruch mit der philosophischen Tradition gezogen habe. Hegel vollziehe demgegenüber eine immanente Bewegung: Er verlagere die (kantische) Spannung zwischen dem Noumenalen und dem Phänomenalen – die Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz – in eine minimale Differenz oder Spannung in der Immanenz selbst (Žižek 2008, 35). Hegel kehre folglich das übliche Verhältnis zwischen der Erscheinung und dem, was angeblich hinter der Erscheinung liegt (das Ding an sich), um. Denn es gebe nach Hegel nichts außerhalb der Erscheinungen, gerade weil die Erscheinung selbst "Nicht-Alles" ist. Die Erscheinung sei stets durch das gespalten, was sicherstellt, dass alles "Erscheinung" ist. Hegel bringt also nach Žižek die kantische Revolution zu ihrem Abschluss, indem er eine transzendentale Erläuterung der Wirklichkeit liefert, ohne aber, wie Kant, eine äußere Ursache (das Ding an sich) zu setzen. Die Wirklichkeit wird damit nicht länger vermittels einer Ausnahme konstituiert. Aus diesem Grund darf die hegelsche Synthese der kantischen Philosophie nicht mehr im herkömmlichen Sinne als Rückkehr zur Identität verstanden werden, sondern ist vielmehr als Negation der Negation/Ausnahme zu denken, die eine minimale Kluft oder Differenz innerhalb des Dings eröffnet. Das Ding/Reale bildet nicht länger das unzugängliche Jenseits der Erscheinungen/Wirklichkeit, sondern fungiert als eine Art Grimasse, die in den Zwischenräumen einer vom Schnitt der Selbstverdoppelung heimgesuchten Wirklichkeit zum Vorschein kommt.

2. Der Umweg über die Religion

In diesem Zusammenhang stellt Žižek fest, dass sich das Paar Kant/Hegel in struktureller Hinsicht bereits als eine Wiederholung des Paares Judentum/Christentum erweist (Žižek 2003, 89). Denn zeigt sich die Differenz zwischen der kantischen Kluft (zwischen den Erscheinungen und dem unmöglichen, transzendenten Ding an sich jenseits der Erscheinungen) und der hegelianischen Kluft (innerhalb des Dings, des Dings als Ontologisierung der Inkonsistenzen zwischen den Erscheinungen) nicht schon in der Differenz zwischen dem jüdischen Gott als dem Realen, transzendenten Ding, und Christus als Ding, das nichts anderes sei als die Kluft, die Christus zur nicht gänzlich menschlichen Grimasse mache?

Die jüdisch-christliche Tradition wird für Žižek zunehmend bedeutsam, weil sie den Keim für eine dialektisch-materialistische Erfahrung der Leere enthält. Allerdings markiert der Bindestrich hier nicht nur eine Verbindung, sondern auch einen Unterschied. Das führt Žižek immer wieder nicht nur anhand der zwei unterschiedlichen Gottesbegriffe vor, sondern auch anhand der zwei unterschiedlichen Verhältnisse zum Gesetz im Judentum beziehungsweise im Christentum. Im Judentum werde das Gesetz von der Ausnahme her gedacht, welche das Gesetz gründe, wohingegen im Christentum das Gesetz gerade "Nicht-Alles" sei. Kurz, während das Judentum durch eine Dualität von Gesetz und Überschreitung gekennzeichnet bleibe, bestehe im Christentum nicht die Möglichkeit, das Gesetz zu überschreiten, weil das Gesetz selbst "Nicht-Alles" sei. Diese Einsicht liege Paulus' Liebesbegriff zugrunde, der den Teufelskreis von Gesetz und inhärenter Überschreitung hinter sich lasse (Žižek 2003, 99). Das will sagen: Paulus' Liebesbegriff steht hier für den Augenblick, der die symbolische Ordnung und ihre gesellschaftlichen Vermittlungen möglich macht. Und diesen Augenblick, diese Form der christlichen Religion, gelte es zu bewahren, ohne ihn wiederum (wie das Christentum selbst) mit einem religiösen Gehalt aufzufüllen; denn gerade die Form der christlichen Religion kann atheistisch in eine "Religion ohne Religion" gewendet werden (Žižek 2003, 129).3

Noch einmal: Der Weg zum dialektischen Materialismus führt Žižek zufolge über die christliche Religion, weil sie – wie der dialektisch-materialistische Atheismus selbst – eine Leere offenbart: eine Wirklichkeit, die nicht in sich geschlossen und vollständig ist. Insofern die christliche Religion gerade offenbart, dass es nichts (mehr) zu offenbaren gibt, hat sie ideologiekritisches Potenzial. In einer brillanten Engführung der Figuren von Hiob und Christus macht Žižek darauf aufmerksam, dass gerade ihre Ablehnung eines Diskurses, der ihr sinnloses Leiden in eine Bedeutungs- oder Opferlogik übersetzt, nicht nur auf der Kontingenz des Leidens beharrt, sondern zugleich auch auf der Ohnmacht des großen Anderen (Gott) (Žižek 2003, 126–27).

Im Lichte dieser Fassung des Christentums als ideologiekritisches Paradigma verändern sich auch einige wesentliche Koordinaten in Žižeks früher Ideologielehre. Während seine frühen Schriften hauptsächlich damit befasst waren, die traditionelle Auffassung von Ideologie umzukehren, indem sie Ideologie nicht länger als "falsches Bewusstsein" begreifen, welches die zugrundeliegende Wirklichkeit verzerrt darstellt oder wiedergibt, sondern als dasjenige, was gerade die symbolische Konstruktion von Wirklichkeit als Flucht vor den traumatischen Effekten des Realen bewerkstelligt,4 führt seine Kritik am früheren Festhalten an einer quasi-transzendentalen Lektüre des unmöglichen Realen zu einer Untersuchung von Ideologie nicht nur im Sinne der Konstruktion von Bildern einer Versöhnung mit dem Ding, sondern auch im Sinne des – vor allem von der liberal-demokratischen Ideologie vorgeschriebenen – Imperativs, Distanz zu diesem (unmöglichen) Ding zu wahren, will man nicht in die "totalitaristische" Falle gehen. Das will sagen, dass sich die quasi-transzendentalistische Logik seiner frühen Ideologiekritik vielleicht zu ausschließlich auf Ideologie als Übersetzung einer Unmöglichkeit in eine bestimmte historische Blockade konzentriert hatte, die, einmal entfernt, den Traum einer erfüllten Versöhnung mit dem Ding realisieren würde. Nun aber rückt ein nahezu gegensätzliches Verfahren in den Vordergrund seiner ideologiekritischen Analysen: die ideologische Erhebung des Realen zu einer Unmöglichkeit, um die Begegnung mit ihm unendlich aufzuschieben oder zu verleugnen.

Kurz, das Christentum ist deshalb von Bedeutung, weil sich in ihm die Möglichkeit ankündigt, die Beziehung zwischen dem Realen und der Unmöglichkeit neu zu denken. Das Christentum beharrt auf (der Möglichkeit) einer Begegnung mit dem Realen, die nicht mehr einfach als transzendentaler Schein abgetan wird. In ihm ist das unmögliche Reale nicht länger unmöglich in dem Sinne, dass es sich niemals ereignen könnte, sondern in dem Sinne, dass das unmögliche Reale sich ereignet (hat), aber gerade als traumatische – "unmögliche" – Begegnung. Das christliche Reale ist also "unmöglich", aber gerade nicht "unmöglich" im Sinne einer gescheiterten Begegnung. Das Reale ist vielmehr insofern "unmöglich", als sich eine traumatische Begegnung ereignet (hat), und zwar ohne Garantie dafür, dass man sich mit ihr innerhalb eines bereits existierenden Rahmens oder Horizontes auseinandersetzen könnte, da gerade sie den Status quo dieses Rahmens oder Horizontes grundlegend verändert. Vor diesem Hintergrund erscheint dann die transzendentale, jüdische Fassung der Begegnung mit dem Realen/Gott als eine Strategie, dieser Begegnung dadurch auszuweichen, dass man sie als unbestimmtes, auf ewig aufgeschobenes Ideal setzt.

Das Reale als "Unmöglichkeit" eröffnet einen Raum für unterschiedliche gesellschaftlich-politische Konstellationen, um mit ihm umzugehen. Das Paulinische Christentum firmiert für Žižek als praktisches Modell einer Politik des Universalen, d.h. als ein Modell, das die Konstellation des Realen umzuwandeln vermag. Es ist nicht deshalb universal, weil es eine alles umfassende Totalität darstellen und alle Teile einschließen würde, und es ist auch nicht deshalb universal, weil es auf ein Merkmal verweisen würde, das allen Teilen gemeinsam wäre; es ist vielmehr deshalb universal, weil es denjenigen Antagonismus als bestimmten Unterschied mobilisiert, der alle Teile des differentiellen Gesellschaftskörpers diagonal durchkreuzt. Dieser bestimmte Unterschied zerteilt jeden partikularen Teil von innen her. Dies heißt aber auch, dass das Reale als "Unmöglichkeit" nicht länger, wie dies noch Žižeks frühe Schriften nahelegen, zwangsläufig mit einer einzigen, demokratischen Konzeption von Politik einhergehen muss. Gerade vermittels einer durch die materialistische Aneignung des Christentums konturierten Problematik der dialektisch-materialistischen Politik des Akts, die für eine kämpferische Allgemeinheit steht, wird eine spürbare Distanz zum Lob der "formalen" Demokratie im Sinne von Claude Lefort, zur liberalen Demokratie und vor allem zu dem von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe entwickelten Begriff der "radikalen Demokratie" sichtbar. Obgleich es hier nicht möglich ist, Žižeks kritische Distanzierung von diesen verschiedenen – und doch auch miteinander verwandten – Konzeptionen von Demokratie im Detail wiederzugeben, sollen zumindest einige wesentliche Argumente, die Žižek im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte gegen diese Konzeptionen vorgebracht hat, im Überblick dargestellt werden.

3. "Formale" Demokratie und ihr "pathologischer" Rest

Nach Žižek zeigt sich die politische Schwäche seiner frühen Texte darin, dass sie zwischen "einem echten Marxismus und dem Lob der 'reinen' Demokratie, einschließlich einer Kritik des 'Totalitarismus' im Gefolge von Claude Lefort", oszillieren (Žižek 2008, 19). In der Tat befürwortet Das erhabene Objekt der Ideologie beiläufig noch eine Konzeption der Demokratie, der zufolge die Demokratie "eine sozio-politische Ordnung [ist], in der das Volk […] nicht existiert. Daher ist es eine der Grundeigenschaften der demokratischen Ordnung, dass der Ort ihrer Macht strukturell und notwendig leer ist" (Žižek 2021, 207). Dieser Konzeption der Demokratie, die sich um eine Leerstelle herum strukturiert (Lefort 1990), liegt eine Auffassung des Totalitarismus zugrunde, der zufolge sich der Totalitarismus nicht nur dadurch auszeichnet, dass in ihm das Volk durch die Partei definiert wird, sondern auch dadurch, dass er gegen das mit der "demokratischen Erfindung" eingeführte Verbot, den Ort der Macht permanent zu besetzen, verstößt (vgl. Sharpe und Boucher 2010, 102). Die Demokratie stellt folglich eine "Erfindung" in "der Geschichte der Institutionen" dar, die nach Žižek, der hier Lefort aufs Wort folgt, durch eine "Entleerung des Ortes der Macht" gekennzeichnet ist, d.h. durch eine Auffassung von demokratischen Wahlen als Auflösung des "sozio-symbolischen Bandes" und als Einbruch des Realen (Žižek 2021, 207). Zwar tritt hier nach Žižek ein "irrationaler" Zug hervor, aber dieser irrationale Zug sei für die "formale" Demokratie konstitutiv. Anders gesagt, wird dieses irrationale Moment der Demokratie abgezogen, verliere man mit ihm zugleich die Demokratie überhaupt (Žižek 2021, 208).

Die demokratische Wahl als Abstraktionsprozess, durch den "das gesamte hierarchische Netzwerk sozialer Beziehungen gleichsam ausgesetzt, in Klammern gesetzt [wird]" und die Gesellschaft "zu einer kontingenten Ansammlung atomisierter Individuen, abstrakter Einheiten" wird (Žižek 2021, 208), erklärt auch Žižeks Behauptung, dass "das Subjekt der Demokratie – wie das Subjekt der Psychoanalyse – kein anderes als das kartesische Subjekt in allen seinen Abstraktionen [ist], der leere Punkt, den man erreicht, nachdem man alle seine partikularen Inhalte abgezogen hat" (Žižek 1991, 163). In dieser Hinsicht kann man sogar von einem auf Abstraktion beruhenden "Antihumanismus" sprechen, der der formalen Demokratie innewohne (Žižek 1991, 163). Allerdings merkt er in diesem Zusammenhang auch an, dass die Abstraktion, die der Demokratie in formaler Hinsicht wesentlich zugehört, niemals alle konkreten substanziellen Verbindungen aufzulösen vermag (Žižek 1991, 164). Genauer gesagt kommt die Demokratie niemals ohne einen – ethnischen und/oder nationalen – Überrest aus, der jedoch nicht empiristisch als Beschränkung der Demokratie missverstanden werden darf, da dieser Überrest vielmehr einen apriorischen Status besitzt. Das heißt, er stellt eine positive Bedingung der Möglichkeit von Demokratie dar, und "ohne diesen materiellen Träger würde sich die Form [der Demokratie] selbst auflösen" (Žižek 1991, 165). Dieser Nexus von formaler "reiner" Demokratie und "pathologischem" Rest zeigt auf das konstitutive Paradox der Demokratie, das in den frühen Texten Žižeks als ausdrücklicher Gegensatz zu Spielarten des Totalitarismus affirmiert wird.5

4. Liberale Demokratie und die spekulative Identität von Multikulturalismus und Rassismus

Wird in den frühen Texten Žižeks die formale Demokratie hauptsächlich von ethnischen Inhalten beziehungsweise der Nation beschmutzt, so wird die Demokratie, die in seinen späteren Texten vor allem unter dem Namen "liberale Demokratie" auftritt, nicht nur kulturkritisch hinsichtlich ihrer Komplizenschaft mit ethnischer und rassistischer Gewalt untersucht, sondern zugleich – traditionell marxistisch – als politische Form des Kapitalismus dechiffriert. Denn für Žižek besteht eine enge Verbindung zwischen der liberaldemokratischen Ideologie des Multikulturalismus und der globalen Logik des Kapitals.6 Gerade die monetäre Abstraktion und falsche Universalität des Kapitals vertragen sich ausgezeichnet mit der multikulturalistischen Identitätspolitik. Nach Žižek besteht folglich kein Zweifel daran, dass der Multikulturalismus sich nicht nur der bestehenden kapitalistischen Ordnung angeschmiegt hat, sondern geradezu zu einer der entscheidenden Bedingungen für den Siegeszug des globalen Kapitalismus geworden ist. Die multikulturalistische liberale Demokratie stellt also kein Hindernis und auch keine Entschleunigung für die vom Kapital bewirkten gegenwärtigen Verwüstungen dar, sondern sie arbeitet dem Kapital und seiner Herrschaft der abstrakten Homogenisierung vielmehr in die Hände, insofern ihre Fragmentierung von gesellschaftlichen Beziehungen in geschlossene individuelle und gemeinschaftliche Identitäten diese in bloßes Material für den globalen Kapitalismus verwandelt. Das heißt, diese beiden Prozesse – die ständige Expansion der Automatismen des Kapitals zu einem Weltmarkt und der liberaldemokratische Multikulturalismus als kulturalistische und relativistische Ideologie – sind eng miteinander verzahnt, insofern multikulturalistisch erzeugte Identitäten Figuren hervorbringen, welche vorwiegend als Möglichkeiten für merkantile Investitionen fungieren. Das Kapital und seine konstanten Gesten der Deterritorialisierung und Entbindung haben folglich einen – von der liberalen multikulturalistischen Demokratie besetzten – postpolitischen Raum eröffnet,7 in welchem sich vielfache und flüssige Subjektentwürfe auf der Grundlage einer Entpolitisierung der Ökonomie verbreiten können. Das heißt: "Die Politik der 'Kette von Äquivalenzen' unter der Vielzahl von Kämpfen entspricht in strenger Weise der unausgesprochenen Verabschiedung einer Analyse des Kapitalismus als eines globalen wirtschaftlichen Systems und der Akzeptanz der kapitalistischen Wirtschaftsbeziehungen als unhinterfragten Rahmen" (Žižek 2006, 174).

Bei näherer Betrachtung erweist sich der Begriff der Toleranz, der im Zentrum des Selbstverständnisses der multikulturalistischen liberalen Demokratie steht, als eine "verleugnete, invertierte und selbstreferentielle Form des Rassismus" (Žižek 2001, 299). Letztlich impliziert die multikulturalistische liberale Demokratie eine Position des Aussagens, welche es ihr ermöglicht, andere Kulturen entweder für gültig zu erklären oder zu disqualifizieren. Ihre körperlose und abstrakte Perspektive auf den Anderen ahmt die Automatismen des Kapitals nach, welche selbst den Anderen nur als eine entsubstantialisierte imaginäre Gestalt oder als einen zensurierten, keimfreien Anderen "einer vormodernen ökologischen Weisheit, faszinierender Riten usw." zulassen (Žižek 2001, 303). Überdies verbergen sich hinter der Fassade der multikulturalistischen liberalen Demokratie auch Reste des Kolonialismus, insofern der Andere in ihrem Rahmen als "Indigener" behandelt wird. Aus diesem Grund kann Žižek behaupten, dass der Kulturimperialismus, welcher die liberale multikulturalistische Demokratie kennzeichnet, ein genaues Spiegelbild zur inhärenten Selbstkolonisierung des Kapitalismus darstellt (Žižek 2006, 170–71).

Der Pluralismus der multikulturalistischen liberalen Demokratie zeigt sein wahres Gesicht, sobald er sich realen Anderen gegenübersieht, d.h. der spezifischen Art und Weise, in der sie ihr Genießen jenseits der für den Multikulturalismus akzeptablen Grenzen organisieren. Hier braucht man sich nur die gegenwärtige Einwanderungspolitik in den westlichen liberaldemokratischen Gemeinschaften in Erinnerung zu rufen, die häufig von (kulturalistischen) Rassisten8 und Multikulturalisten unterstützt wird. Diese uneingestandene Nähe zwischen Rassisten und Multikulturalisten macht überdies deutlich, dass der angebliche Gegensatz zwischen der "offenen" Position der multikulturalistischen liberalen Demokratie und geschlossenen rassistischen Positionen dieselbe Ausschließung zur Grundlage hat: nämlich jene der nicht-westlichen Anderen (Migranten). Der liberaldemokratische Multikulturalismus funktioniert also gemäß derselben Logik wie der kulturalistische Rassismus, insofern beide die Verschiedenheit des nicht-westlichen Anderen zum Äußersten treiben und ihm "fundamentalistische", "patriarchalische" oder "gewalttätige" Tendenzen unterstellen. Der nicht-westliche Andere liefert folglich die negative (verleugnete) Grundlage für Rassismus wie auch für Multikulturalismus. Schließlich verdunkeln beide Positionen den Sachverhalt, dass ihre jeweiligen Fassungen des Anderen in ihrem eigenen Antagonismus gefangen sind und dass "die einzige authentische Kommunikation" die der "'Solidarität in einem gemeinsamen Kampf' [ist], meine Entdeckung, dass die Sackgasse, die mich aufhält, auch die Sackgasse ist, die den Anderen aufhält" (Žižek 2001, 305).

Der Multikulturalismus als relativistische Ideologie der liberalen Demokratie verstärkt letztlich die immanente Spannung, die Žižek im Allgemeinen in der repräsentativen Struktur der liberalen Demokratie identifiziert. Hier geht es vor allem um die – selbstverständlich schon von Marx vorgebrachte – Erkenntnis, dass der angeblich neutrale Mechanismus der liberaldemokratischen Repräsentation in Wirklichkeit eine konsensuelle Repräsentation des Kapitalismus darstellt. Dieser Sachverhalt erschließt sich allerdings nur unter der Bedingung, dass man eine empirische Betrachtungsweise der liberaldemokratischen Repräsentation hinter sich lässt und sich stattdessen auf deren Form konzentriert, deren Nicht-Neutralität gerade in Krisenmomenten sichtbar wird, in denen "das demokratische System nicht in der Lage ist, das Denken oder die Wünsche der Menschen zu registrieren", ohne sie gleichsam im repräsentativen System der liberalen Demokratie verschwinden zu lassen (Žižek 2021a, 88). Žižek erwähnt in diesem Zusammenhang die gilets jaunes in Frankreich und Podemos in Spanien und bemerkt über beide Bewegungen:

Die Proteste artikulierten eindeutig eine Erfahrung, die unmöglich in die Begriffe der Politik institutioneller Repräsentation übersetzt oder übertragen werden konnten, und deshalb verflüchtigte sich ihre Erfahrung in dem Augenblick, in dem Macron ihre Vertreter zu einem Dialog einlud und sie aufforderte, ihre Beschwerden in einem klaren politischen Programm zu formulieren. Geschah nicht genau das Gleiche mit Podemos in Spanien? In dem Augenblick, in dem sie dem Spiel der Parteipolitik zustimmten und in die Regierung eintraten, konnte man sie beinahe nicht mehr von der Sozialistischen Partei unterscheiden – ein weiteres Zeichen dafür, dass die repräsentative Demokratie nicht völlig funktioniert (Žižek 2021a, 88).

Dies bedeutet jedoch keinesfalls, einfach einer direkten Demokratie, welche den repräsentativen Rahmen der liberalen Demokratie hinter sich lässt und gleichsam den Staat auflöst, das Wort zu reden, da direkte Herrschaft durch das Volk "eine Illusion ist, die in der Regel von einem starken Staatsapparat aufrechterhalten werden muss" (Žižek 2021a, 89). Wie die Beispiele der Favelas oder der postindustriellen digitalen Kultur zeigen, stützen sich deren Spielarten einer "direkten Demokratie" auf den Staatsapparat, insofern "ihr Überleben von einem dichten Gewebe aus 'entfremdeten' institutionellen Mechanismen abhängig ist" (Žižek 2021a, 217). Dies hat zur Folge, dass es nicht mehr darum gehen kann, "Entfremdung zu überwinden, sondern eher darum, die richtige Art von Entfremdung zu verwirklichen", d.h. das Funktionieren von gesellschaftlichen Mechanismen zu fördern, "welche den Raum für direkte Gemeinschaften tragen" (Žižek 2021a, 217). Zugleich darf diese Einsicht in die Irreduzibilität von gesellschaftlicher Entfremdung jedoch nicht dazu verleiten, diejenigen grundlegenden Ausschließungsstrukturen zu ignorieren, die auch die gegenwärtigen liberaldemokratischen Gesellschaften kennzeichnen:

Die Erkenntnis, dass die Politik ein komplexes Spiel darstellt, in dem eine gewisse Ebene institutioneller Entfremdung irreduzibel ist, sollte uns nicht dazu führen, die Tatsache zu ignorieren, dass es immer noch eine Trennlinie gibt, welche diejenigen, die 'drinnen' sind, von denjenigen, die 'draußen' sind, vom Raum der Polis ausgeschlossen sind, entzweit; es gibt Bürger, und es gibt das Gespenst des Homo sacer, welches sie alle heimsucht. Anders gesagt, sogar 'komplexe' zeitgenössische Gesellschaften beruhen auf der grundsätzlichen Kluft zwischen den Integrierten und den Ausgeschlossenen (Žižek 2006, 52–53).

5. Radikale Demokratie oder Klassenkampf? Ja, bitte!

Die Aufgabe heutiger marxistisch-leninistischer Theorie und Politik erschöpft sich Žižek zufolge nicht in einem bloß ideologie- und kulturkritischen Diskurs, der auf denjenigen Rassismus aufmerksam zu machen sucht, der ein konstitutives und zugleich verleugnetes Moment der multikulturalistischen liberalen Demokratie darstellt. Im Zentrum muss nach Žižek vielmehr erneut der Versuch stehen, eine marxistisch-leninistische Kritik der kapitalistischen politischen Ökonomie mit einer Infragestellung der Demokratie als Herrensignifikanten zu verbinden. Denn der hauptsächliche Gegenspieler einer marxistisch-leninistischen Politik universaler Emanzipation ist nicht nur das Kapital, sondern auch die Demokratie als "Wahrzeichen der gegenwärtigen politischen Gesellschaft" (Badiou 2016, 13), da fundamentalkritische Auseinandersetzungen mit dem Kapitalismus gerade durch die vorherrschende Überzeugung, dass diese Auseinandersetzungen demokratischen Spielregeln folgen müssen, entscheidend eingeschränkt oder gar verhindert werden.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie sich die in Žižeks späteren Texten immer stärker und bedingungsloser affirmierte Inanspruchnahme des marxistisch-leninistischen Erbes zum radikaldemokratischen Diskurs Laclaus verhält.9 Die Relevanz von Laclaus (und Chantal Mouffes) Hegemonietheorie sieht der frühe Žižek in der Elaboration des grundsätzlichen Unterschiedes zwischen einer Logik des Antagonismus und einer Logik der symbolischen Differenzen. Gerade die Elaboration dieses Unterschiedes räumt Laclau und Mouffe die Möglichkeit ein, einen neuartigen, komplexen Hegemoniebegriff zu entwickeln, welcher die kontingente Verbindung zwischen den Differenzen, die einem gegebenen soziosymbolischen Feld innewohnen, dem Antagonismus, der das gegebene soziosymbolische Feld von dessen Exteriorität abgrenzt und der selbst niemals direkt, sondern nur auf verzerrte Art und Weise durch diejenigen partikularen Differenzen, die dem soziosymbolischen Feld immanent sind, repräsentiert werden kann (Žižek 2013, 115), und der leeren Universalität artikuliert. Laclau und Mouffe begreifen Politik im Sinne einer Artikulation von hegemonialen Praktiken, durch die auf temporäre Art und Weise gesellschaftliche Ordnungen errichtet werden, die sich nicht einer Logik verdanken, die dem Kampf um Hegemonie äußerlich wäre, sondern kontingenter Natur sind.10 Politik wird als hegemoniale Formation von strategischen Koalitionen unter einem Herrensignifikanten entfaltet, durch die der Ort der leeren Allgemeinheit vorübergehend besetzt wird, ohne dass der Antagonismus unmittelbar mit der kapitalistischen Ökonomie identifizierbar ist und ohne dass man weiterhin einen privilegierten Akteur der politischen Transformation – wie die Arbeiterklasse im Marxismus – voraussetzen muss. Der Antagonismus kann sich folglich in unterschiedlichen Kämpfen manifestieren, ohne dass diese Kämpfe jemals in einen finalen und inklusiven Konsens münden, der die konstitutive Opazität der heterogenen Gesellschaft in eine transparente Gesellschaft überführt. Aus diesem Grund beschreibt Laclaus und Mouffes Hegemonietheorie nicht nur den politischen Prozess im Allgemeinen, sondern sie beinhaltet zugleich die radikale Demokratie als Norm.11

Obgleich sich die radikaldemokratische Politik auf konstitutive Antagonismen bezieht, die die Herstellung jedweder gesellschaftlichen Totalität verhindern beziehungsweise als Phantasma ausweisen, behauptet Žižek dennoch, dass die Gleichsetzung von Hegemonietheorie und radikaler Demokratie insgeheim darauf hinauslaufe, den gesellschaftlichen Antagonismus in bloßen Agonismus, d.h. in das Regelspiel des politischen Wettbewerbs zu übersetzen, was einen konstitutiven Ausschluss derjenigen, die "die demokratischen Spielregeln ablehnen" (Žižek 2003a, 92), zur Folge habe und überdies die Möglichkeit blockiere, den Wechsel "von einem Antagonismus, der den Differenzen untergeordnet ist, hin zur vorherrschenden Rolle des Antagonismus" zu vollziehen (Žižek 2003a, 91–92). Žižek konzentriert sich in diesem Zusammenhang vor allem auf den bestehenden symbolischen Rahmen oder Horizont, in dem diese kontingenten hegemonialen Operationen der radikalen Demokratie stattfinden und der sie gewährleistet. Kurzum, es geht ihm um den Unterschied zwischen "der Kontingenz […] innerhalb eines gegebenen historischen Horizontes und der grundlegenderen Ausschließung/Verwerfung, die gerade diesen Horizont begründet" (Žižek 2013, 141). Dieser Rahmen der radikalen Demokratie, der sich der Einsicht von Laclau und Mouffe in den grundlegenden Antagonismus der Gesellschaft verdankt ("die Gesellschaft existiert nicht"), wird also angeblich zugleich ausgeschlossen, und gerade dieser Ausschluss, den Žižek mit dem von Laclau vollzogenen Ausschluss des Kapitalismus identifiziert, stellt die Möglichkeitsbedingung für die hegemoniale Logik der radikalen Demokratie dar: d.h. für eine Logik, die folglich nicht in der Lage sei, das liberaldemokratische Imaginäre zu unterminieren, sondern die es bestenfalls radikalisiere. Laclau verkenne also, dass der Kapitalismus die Grundlage für den Kampf um Hegemonie in der Gegenwart darstellt. In diesem Zusammenhang postuliert Žižek, dass der Kapitalismus als ein symbolisches Reales fungiert, d.h. als derjenige konsistente Hintergrund, vor dem sich das gesellschaftliche Leben abspielt. Dieser Hintergrund strukturiert im Voraus dasjenige Terrain, auf dem eine Vielheit von partikularen Elementen um Hegemonie kämpfen. Kurzum, die radikale Demokratie erweist sich nicht als Bruch mit der liberalen Demokratie, sondern als ein radikalisierter Liberalismus, der die Klassenstruktur und die ökonomische Ausbeutung in der kapitalistischen Gesellschaft unberührt lässt oder sie sogar naturalisiert (Žižek 2013, 406).

Žižek beharrt hingegen auf dem Klassenbegriff wie auch auf dem Begriff des Klassenkampfes, um auf diese Weise an einem grundlegenden Antagonismus festhalten zu können, wohingegen der Klassenkampf von Laclau durch eine Reihe von Antagonismen ersetzt werde, die "eine Kette von Äquivalenzen errichten können" (Žižek 2008a, 286). Diese Substitution verfehlt nach Žižek jedoch die grundlegende Einsicht von Marx, der zufolge man es nicht einfach mit Verzerrungen der Allgemeinheit zu tun hat, die für Politik konstitutiv sind, sondern gerade damit, dass die "Verzerrung als solche als der Ort der Allgemeinheit behauptet wird" (Žižek 2008a, 294). Auf diese Weise versucht Žižek, die Ökonomie weiterhin als das grundlegende Strukturprinzip begreiflich zu machen, insofern die kapitalistische Ökonomie, d.h. ihr kollektiver Produktionsprozess, nicht einfach "eine weitere Ebene unter den vielen Ebenen der gesellschaftlichen Organisation [ist], sondern der Ort des 'Widerspruchs', der strukturellen Instabilität, des zentralen gesellschaftlichen Antagonismus ('es gibt kein Klassenverhältnis'), der als solcher in alle anderen Ebenen hineinreicht" (Žižek 2008a, 295).

Žižek lehnt es nicht nur ab, den (radikal-)demokratischen Kampf zu dem "Wahrzeichen" gegenwärtiger Politik zu erheben, sondern er geht auch – gegen Laclau – die marxistisch-leninistische Wette ein, "dass es einen Antagonismus ('Klassenkampf') gibt, der alle anderen überdeterminiert und der als solcher das 'konkrete Allgemeine' des ganzen Feldes ist" (Žižek 2003a, 101). Nur der marxistische Begriff des Klassenkampfes, der, anders als der Begriff der radikalen Demokratie, Kontingenz nicht mit Differenz, sondern mit Antagonismus verknüpft, könne letztlich dem Unterschied zwischen einer bestehenden symbolischen Ordnung und demjenigen, was von dieser Ordnung ausgeschlossen ist (und sie zugleich konstituiert), Rechnung tragen. Der Klassenkampf verkörpert also gerade dasjenige Strukturprinzip, das Hegel als "konkretes Allgemeines" ausgearbeitet hat: "Indem er sich auf sein Anderes (andere Antagonismen) bezieht, bezieht er sich auf sich selbst, d.h. er (über-)determiniert die Art und Weise, in der er sich auf die anderen Kämpfe bezieht" (Žižek 2003a, 102). Er stellt somit nicht eine weitere Variante der Kämpfe um Hegemonie im gesellschaftlichen Feld dar; denn während Kämpfe um Hegemonie als bloße Versionen von Identitätspolitik darum bemüht sind, den Antagonismus in eine Differenz zu übersetzen, bestimmt der Klassenkampf den Horizont der gegenwärtigen Identitätspolitik, indem er im Vorhinein denjenigen Bereich strukturiert, in dem vielfältige besondere Inhalte um Hegemonie kämpfen. Der Klassenkampf bezeichnet folglich eine Teilung, die alle bestehenden positiven Teilungen durchquert oder spaltet.

Die Tatsache, dass der Klassenkampf den (verleugneten) Horizont der gegenwärtigen demokratischen Identitätspolitik bildet, bedeutet jedoch keineswegs, dass man unter allen Umständen direkt und ausschließlich auf den Hauptwiderspruch beharren muss; denn diese Insistenz beruht auf einem essentialistischen Begriff des Klassenkampfes, der nicht erkennt, dass der Klassenkampf ein überdeterminierendes Prinzip darstellt, welches die "dynamische Interaktion der Vielzahl an gegenwärtigen Auseinandersetzungen reguliert" (Žižek 2021a, 158). Žižek stellt fest, dass man beispielsweise heutzutage in den Vereinigten Staaten von Amerika nicht über den Klassenkampf sprechen könne, "ohne die Unterdrückung und Ausbeutung der schwarzen Bevölkerung zu thematisieren". Wenn man den Klassenkampf unabhängig von der Frage des Rassismus behandelt, verkennt man den vollen Umfang der Klassenunterdrückung, der die Existenzweise der schwarzen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten von Amerika kennzeichnet (Žižek 2021a, 158). Aber zugleich besteht er wiederum darauf, den Klassenkampf und antirassistische oder feministische Kämpfe nicht einfach als eine Reihe von Antagonismen aufzufassen (Žižek 2021a, 161). Denn die Reduktion des Klassenkampfes auf einen Antagonismus unter vielen bedeutet, den Klassenkampf in Gestalt des "Klassismus" einer Identitätspolitik zu unterwerfen. Aus diesem Grund ist von entscheidender Bedeutung, dass man den formalen Unterschied zwischen dem Klassenantagonismus und anderen Antagonismen beibehält:

Im Falle der Antagonismen in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern und den sexuellen Identitäten zielt der Kampf um Emanzipation nicht auf die Vernichtung einiger Identitäten ab, sondern darauf ab, die Bedingungen für ihre nicht-antagonistische Koexistenz zu schaffen, und dasselbe gilt auch für die Spannungen zwischen ethnischen, kulturellen oder religiösen Identitäten – das Ziel besteht darin, ihre friedliche Koexistenz zu realisieren, wechselseitigen Respekt und Anerkennung. Der Klassenkampf funktioniert nicht auf diese Weise. […] Der Klassenkampf ist ein 'reiner' Antagonismus: Das Ziel der Unterdrückten und Ausgebeuteten besteht darin, die Klassen als solche abzuschaffen und nicht ihre Versöhnung zu bewerkstelligen. Aus diesem Grund 'resoniert' der Klassenkampf in anderen Kämpfen auf andere Weise als diejenigen, die in ihm resonieren – er führt in die anderen ein Element des unversöhnlichen Antagonismus ein (Žižek 2021a, 164).

Žižeks Bezugnahme auf den "reinen Antagonismus", der unter dem alten Namen "Klassenkampf" auftritt, ist Teil seines Projekts, die von Laclau (und Mouffe) unternommene Ersetzung des Begriffs des Klassenkampfes durch den Begriff des Kampfes um Hegemonie gewissermaßen rückgängig zu machen. Aber hier stellt sich die Frage, inwiefern sich Žižeks Auffassung des Klassenkampfes tatsächlich von Laclaus radikaldemokratischer Politik unterscheidet, zumal auch letztere den Versuch darstellt, den Antagonismus zu denken, auf den die hegemoniale Formation von strategischen Koalitionen unter einem Herrensignifikanten antwortet. Anders gefragt: "Folgt Žižek bei seiner Verteidigung des 'Klassenkampfes' nicht einfach dem Prinzip, das die 'radikale Demokratie' vorschlägt" (Butler 2006, 67)? Stellt also "Klassenkampf" letzten Endes nichts anderes als eine radikalisierte Anwendung der vermittels der "radikalen Demokratie" artikulierten Einsicht, dass es keinen endgültigen Herrensignifikanten geben kann, dar? Und wenn dies zutrifft, muss man dann nicht folgern, dass es Žižek "am Ende doch nicht um die Klasse" geht: "Auch sie ist nur ein Platzhalter für das, was aufgrund seiner Anwesenheit gerade verfehlt wird" (Butler 2006, 68).

Laclaus Konzeption der radikalen Demokratie verwirft die marxistische These eines privilegierten Akteurs ("Arbeiterklasse"), dem auf apriorische Art und Weise ein revolutionärer Status zukommt, insofern er eine bestimmte Klassenposition im kapitalistischen Produktionsprozess innehat. Obgleich die Arbeiterklasse nicht länger als privilegierte Subjektposition firmiert, heißt dies nicht, dass die Forderungen der Arbeiterklasse von Laclau einfach eskamotiert würden – sie werden vielmehr mit Forderungen, die aus anderen sozialen Kämpfen hervorgehen, artikuliert. Da der globalisierte Kapitalismus eine Vielzahl von Antagonismen generiert, kann nur eine Überdeterminierung "dieser Vielfalt von Antagonismen globale antikapitalistische Subjekte erzeugen, die in der Lage sind, einen Kampf zu führen, der diesen Namen verdient" (Laclau 2022, 186). Der Klassenkampf der Arbeiterklasse besitzt folglich keine Garantie, die von einer objektiven Geschichtslogik suggeriert wird, und die Arbeiterklasse kann bestenfalls als "das metaphorische Zentrum einer Vielzahl von unterschiedlichen Kämpfen, die sich nicht auf die Sache der Arbeiter im engen Sinne beschränken", fungieren (Laclau 2022, 221). In dieser Hinsicht steht Laclau wiederum Žižek nahe, der ebenfalls die These zurückweist, dass die Arbeiterklasse (weiterhin) als der privilegierte Akteur der Geschichte betrachtet werden muss. In diesem Zusammenhang beschwört Žižek die Unterscheidung zwischen dem soziologischen Begriff der Arbeiterklasse und dem politischen Begriff des Proletariats: Zwischen beiden herrscht "keine determinierende Kausalverbindung, und die zwei müssen streng voneinander getrennt werden" (Žižek 2006, 199). Vor diesem Hintergrund geht Žižek sogar so weit und schlägt vor, das Proletariat mit einer "subjektiven Haltung" zu verbinden, die "im Prinzip jedem Individuum widerfahren kann" (Žižek 2006, 199). In quasi-religiöse Begriffe übersetzt: "Jedes Individuum kann durch die Gnade berührt und als ein proletarisches Subjekt angerufen werden" (Žižek 2006, 199). Diese Übertragung vermag auch den Umstand erklären, dass potenzielle Kandidaten für das Proletariat, die Žižek anführt, wenig mit der orthodoxen marxistischen Auffassung vom Proletariat gemein haben. So sind es, wie Žižek wiederholt behauptet, die Bewohner der Favelas, der Ghettos und Slums, die als großes, gewaltsam zusammengefügtes proletarisches Kollektiv "neue Formen sozialen Bewusstseins" und des Zusammenlebens verkörpern und "die Keime der Zukunft" in sich tragen (Žižek 2005, 204).

Zwar ist der marxistische Primat der Kritik des Kapitalismus auf der Grundlage eines substanziellen Klassenbegriffs fragwürdig geworden, aber dieser Umstand bedeutet nicht, wie oben gezeigt, dass die Kritik des Kapitalismus in Laclaus radikaldemokratischem Denken abwesend ist. Wie Laclau betont, hängt die konstitutive Heterogenität der gegenwärtigen Gesellschaft vielmehr gerade eng mit dem globalen Kapitalismus zusammen, der nicht "als eine rein ökonomische Gegebenheit" missverstanden werden darf, sondern als "ein Komplex" begriffen werden muss, "in dem ökonomische, politische, militärische, technologische usw. Bestimmungen, die alle mit einer jeweils eigenen Logik und einer gewissen Autonomie ausgestattet sind, in die Bestimmung der Bewegungen des Ganzen eingehen" (Laclau 2022, 275). Anders gesagt: Laclaus Konzeption der radikalen Demokratie akzeptiert keineswegs, wie Žižek zu unterstellen scheint, den Kapitalismus stillschweigend als ultimativen Horizont, der nicht überschritten werden kann; seine kritische Analyse der gegenwärtigen neoliberalen Transformationen des Kapitalismus (Stichwort: Finanzkapitalismus) betrachtet jedoch den Kapitalismus nicht länger als eine kohärente Form, aus der sich auf immanente und objektive Art und Weise ein Widerstand (Stichwort: Klassenkampf) gegen des Kapitalismus ableiten lässt, sondern dessen Herrschaft als Ergebnis "einer hegemonialen Konstruktion" begriffen werden muss, als "Ort einer Überdeterminierung sozialer Logiken" (Laclau 2022, 282–83).

Žižek bestreitet nicht, dass der den Kapitalismus strukturierende Antagonismus weder einfach beseitigt noch in einen Differenzbegriff übersetzt werden kann, aber man kann nichtsdestotrotz auf ihn einwirken. Das heißt, man kann seine spezifischen Materialisierungsarten verändern, d.h. diejenigen symbolischen Strukturen, die sich um ihn herum herausgebildet haben. Man kann folglich in das symbolische Feld eingreifen – allerdings nicht von einem "Außen", sondern gerade vom Standpunkt desjenigen verborgenen Strukturprinzips der symbolischen Ordnung her, welches als innere Ausnahme, als Symptom der symbolischen (demokratischen) Ordnung fungiert. Diese innere Ausnahme markiert den Einsatzpunkt einer Politik, die innerhalb des Symbolischen operiert und so auf die Konstellationen des symbolischen Realen Einfluss zu nehmen vermag. Darin gleicht sie der radikaldemokratischen Politik, denn auch ihr liegt die Überzeugung zugrunde, dass der gesellschaftliche Antagonismus nicht zum Verschwinden gebracht werden kann. Obgleich sie den gesellschaftlichen Antagonismus nicht abschaffen kann, vermag sie ihn allerdings zu affizieren, d.h. sie vermag vermittels ihrer hegemonialen Konstruktion einer politischen Front in den gesellschaftlichen Antagonismus einzugreifen. Die radikaldemokratische Politik unterminiert die fragwürdige Unterscheidung zwischen Kämpfen, die im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung ausgetragen werden, und Kämpfen, die darauf abzielen, die bestehende Gesellschaftsordnung als solche zu verändern: Wie Laclau zurecht bemerkt, setzt diese Unterscheidung eine problematische Auffassung des bestehenden Gesellschaftssystems als in sich geschlossenes System, das keine Lücken aufweist, voraus (Laclau 2013, 363) – eine Auffassung, die auch Žižek zurückweist, da er selbst immer wieder darauf besteht, dass bestimmte Kämpfe innerhalb des vorherrschenden kapitalistischen Gesellschaftssystems deshalb zu Kämpfen werden können, die dessen Rahmenbedingungen in grundsätzlich in Frage stellen, weil die kapitalistische Gesellschaft aufgrund ihrer antagonistischen Verfasstheit niemals eine Totalität auszubilden vermag. Folglich erweist sich auch Žižeks Kritik, der zufolge die radikaldemokratische Konzeption von Politik eine Politik der Unterbrechung beziehungsweise des Bruchs grundsätzlich verunmöglicht, da diese nicht von vornherein durch einen demokratischen Konsens gedeckt werden kann, als eine Kritik, die den Kern von Laclaus politischem Denken schlicht verfehlt. Im Gegenteil manifestiert sich an diesem Punkt eine weitere Konvergenz zwischen Žižek und Laclau: Bekanntlich entfaltet Žižek seine Politik des Akts als eine Politik, welche einen Schritt ins Offene wagt, ohne dass ihr Resultat im Vorhinein garantiert werden kann: d.h. als ein Wagnis, das jenen als unerträglich erscheint, deren Konzeption von Politik im falschen Gegensatz von Demokratie und Totalitarismus gefangenbleiben. Ebenso verwirft Laclau Leforts Gegenüberstellung von Demokratie und Totalitarismus, da sie letzten Endes Demokratie implizit mit liberaler Demokratie kurzschließt und folglich andere Konzepte von Demokratie ignoriert (Laclau 2022, 202–3). Und er bewahrt kritische Distanz nicht nur zur "Vorstellung eines absolut revolutionären Ereignisses, das, indem es eine vollständig mit sich versöhnte Gesellschaft herbeiführt, das Moment des Politischen überflüssig macht", sondern ebenso zu einer "Politik der kleine Schritte, die Politik auf Verwaltung reduziert" (Laclau 2022, 269). Laclau betont, dass seine radikaldemokratische Erläuterung des Übergangs "von einer hegemonialen Formation zu einer anderen" einen "radikalen Bruch" mit der bestehenden Ordnung erfordert, der eine Affinität zum lacanianischen Akt aufweist (Laclau 2022, 272–73). Genauso wenig wie der lacanianische Akt kann auch die radikaldemokratische Konzeption des Bruchs zwischen hegemonialen Formationen auf eine bestehende symbolische Ordnung zurückgeführt werden, da dieser Bruch – Laclau beschreibt ihn sogar als "eine creatio ex nihilo" (Laclau 2022, 273) – gerade deren Koordinatensystem grundlegend erschüttert und verändert. Er untergräbt die bestehende symbolische Ordnung, den großen Anderen, indem er dessen Inkonsistenzen und Schwächen offenlegt, und er steht zugleich in einem engen Zusammenhang mit dem Denken neuer kollektiver Formen von Politisierung.

Sowohl Žižeks Politik des Akts als auch Laclaus radikaldemokratische Politik der Hegemonie verfolgen ihre jeweiligen Projekte, neue kollektive Formen von Politisierung zu erarbeiten, dadurch, dass sie – wie hier zum Abschluss nur äußerst knapp skizziert werden kann – einen "radikalen Antagonismus wieder in das demokratische Feld" einzuführen versuchen (Žižek 2010, 393), d.h. der Demokratie eine egalitäre Dimension, die als Forderung "von so etwa wie einem Underdog" (Laclau 2022, 159) gegen das bestehende System gerichtet wird, zu verleihen. In Žižeks Projekt erfolgt dies unter dem marxistisch-leninistischen Namen "Diktatur des Proletariats". Žižek rehabilitiert dieses Syntagma, um zunächst deutlich zu machen, dass "Demokratie" und "Diktatur" nicht als Gegensätze zu begreifen sind, sondern dass beide vielmehr als "formale Bestimmungen" begriffen werden können (Žižek 2009, 240). Dieser Fokus auf den Formalaspekt von Demokratie und Diktatur erzeugt die Erkenntnis, dass die Demokratie selbst eine "diktatorische" Form darstellt, insofern sie als ein "Überschuss der Repräsentation über das hinaus, was sie repräsentiert" (Žižek 2009, 241), erfasst werde muss. Diese "diktatorische" Dimension der Demokratie "wird spürbar, sobald der Streit zu einem Streit um das Streitfeld selbst wird" (Žižek 2009, 242). Dieser rein formalen Bestimmung der Diktatur (der Demokratie) stellt Žižek sodann die ebenfalls formale (nicht mehr soziologisch-inhaltliche) Bestimmung des Proletariats als "Anteil der Anteillosen" zur Seite. "Diktatur" des Proletariats bezeichnet folglich jenes "schwankende Moment", in dem "das komplexe Gewebe der Repräsentationen aufgrund des direkten Eindringens der Allgemeinheit in das Feld des Politischen außer Kraft gesetzt wird" (Žižek 2009, 244). Kurzum, "Diktatur des Proletariats" ist "ein anderer Name für die Gewalt der demokratischen Explosion selbst" (Žižek 2009, 246), d.h. für die "Selbstorganisation des Volkes", wobei Žižek unmittelbar klarstellt, dass "Volk" hier die plebs meint und nicht "das Volk eines populistischen Projekts" (Žižek 2016, 128).12 Zugleich steht die "Diktatur des Proletariats" jedoch auch in einem spezifischen Verhältnis zur Macht: Ihr "totalitaristischer Exzess" befindet sich auf Seiten "des 'Anteils der Anteillosen', nicht auf Seiten der hierarchischen Gesellschaftsordnung", und diese Transposition der Macht hat zur Folge, dass das Proletariat "den Ort der staatlichen Repräsentanz selbst in eine Richtung 'dreht'" (Žižek 2009, 179).

Laclaus Projekt einer erneuten Emphase auf dem radikalen Antagonismus im demokratischen Feld trägt den Namen "Populismus". Obgleich Žižek die laclausche Konzeption des Populismus beschuldigt, dem radikalen Antagonismus in der gegenwärtigen Gesellschaft dadurch nicht gerecht zu werden, dass einerseits ihre Konstruktion eines Feindes den radikalen (inneren) gesellschaftlichen Antagonismus angeblich nach außen verschiebt, somit sowohl die Dichotomie von "Feind" und "Volk" auf substantielle Art und Weise auffasse und letzten Endes eine "Suspendierung" und "Naturalisierung" von Politik zur Folge habe (vgl. Žižek 2008a, 278),13 und andererseits (wie angeblich bereits in Laclaus Hegemoniebegriff) die eigentliche Universalität verfehlt, da sie Universalität als Kampf "zwischen zwei partikularen Gruppen" und nicht als eine "selbst von innen her" zerschnittene Universalität entwickelt (Žižek 2020, 373), zeigt schon ein flüchtiger Blick auf Laclaus Theorie des Populismus, dass diese Anschuldigungen grundlos sind. Denn Laclau betont gerade immer wieder, dass die Konstruktion eines "Volkes" mit der "Konstruktion einer Grenze" einhergeht, welche "die Voraussetzung für die Entstehung des 'Volkes' ist" (Laclau 2022, 190). Das heißt: Laclaus Theorie des Populismus basiert auf einem Politikbegriff, der durch die "Konstitution einer antagonistischen Grenze innerhalb des Sozialen" definiert wird (Laclau 2022, 190). Laclaus Auffassung des "Volkes" als Name (und nicht als Begriff) leistet folglich keinem Essentialismus oder Substantialismus Vorschub; im Gegensatz zum "Ethnopopulismus" (Laclau 2022, 231) behauptet Laclau auch nicht, dass das "Volk" eine bereits bestehende positive Entität, eine "im Vornhinein bestehende Einheit einer Gruppe" bezeichnet und/oder sich einer geschichtlichen Notwendigkeit verdankt (Laclau 2022, 152). Vielmehr begreift er das "Volk" im Gegenteil ausdrücklich als eine aus der Herstellung äquivalentieller Verbindungen resultierende Konstruktion, die den konstitutiven Antagonismus des sozialen Feldes in sich trägt (Laclau 2022, 115). Anders gesagt, ist das "Volk" weniger eine "Assemblage" aus heterogenen Elementen, sondern vielmehr "Teil des antagonistischen Kampfes", wobei der "Antagonismus […] jedes dieser Elemente von innen [durchzieht]" (Žižek 2020, 413). Laclaus "Volk" (beziehungsweise plebs)14 als "Exzess des Heterogenen" (Laclau 2022, 170) ist, ähnlich wie Žižeks Identifikation des Proletariats mit dem "Anteil der Anteillosen", weniger ein partikulares Element, "das die Universalität hegemonisiert", sondern eher das Element, "das innerhalb der Universalität für das steht, was aus ihr ausgeschlossen ist" (Žižek 2020, 373). Überdies besitzen weder das "Volk" noch das "Proletariat" als "Exzesse des Heterogenen" ein begriffliches Korrelat; sie sind "Namen" (Laclau 2022, 222), d.h. performative Effekte. Diese "'destrukturierten', armen und von allem beraubten Massen", die von "einer möglichst unkalkulierbaren Mischung verschiedener Akteure getragen werden" (Žižek 2009, 262, 273), als deren metaphorisches Zentrum (für Žižek) das "Proletariat" firmiert, tragen eindeutig Züge des laclauschen Populismus, insofern auch sie nur dadurch zu einem gesellschaftlichen Kollektiv werden, welches das globale kapitalistische System unterbrechen kann, dass sie sich in Form von hegemonialen, nach (Neu-)Organisation trachtenden Kämpfen ("Diktatur") um die Ausarbeitung eines neuen Herrensignifikanten bemühen, d.h. um eine "neue Welt", um eine neue "kognitive Kartierung" (Žižek 2009, 206). Auf Žižeks "Diktatur des Proletariats", die er auf fragmentarische Art und Weise gerade in den rezenten populistischen Bewegungen von Hugo Chávez, dem Arabischen Frühling, von Podemos in Spanien und Syriza in Griechenland am Werk sieht (vgl. z.B. Žižek 2009, 263–64; 2013a, 188–200), trifft dasjenige "Janusgesicht" zu, das nach Laclau den Populismus (und das populare "Volk") auszeichnet: Subversion der bestehenden Ordnung und "Artikulation fragmentierter und dislozierter Forderungen rund um einen neuen Kern" (Laclau 2022, 215). Im Zusammenhang mit dieser komparativen Skizze von einigen wesentlichen theoretischen Affinitäten zwischen Laclaus Theorie des Populismus und Žižeks "Dehnung" bestimmter marxistisch-leninistischer Begriffe könnte eine daran anschließende Lektüre von Laclaus und Žižeks zahlreichen und gehaltvollen Analysen populistischer Bewegungen in den letzten zwei Jahrhunderten zur Vertiefung und Ausweitung des gegenwärtigen politischen Horizontes beitragen.15

Notes

  1. Dieser Umstand erklärt, warum Žižeks politisches Denken in Publikationen zur Frage der Demokratie kaum präsent ist. Siehe z.B. Lembcke, Ritzi und Schaal (2012); Flügel-Martinsen (2020); Herrmann und Flatscher (2020); Buchstein, Pohl und Trimcev (2021). Wenn Žižeks Name in Bänden über zeitgenössische Demokratietheorien erwähnt wird, dann nur als Kritiker und eben nicht als Theoretiker der Demokratie, siehe Heil (2004) und Comtesse, Flügel-Martinsen, Martinsen und Nonhoff (2020). [^]
  2. Der vorliegende Aufsatz bezieht sein Material aus einigen früheren Texten (Vogt 2008; Vogt 2011) und führt es weiter aus. [^]
  3. Obgleich es hier vornehmlich um eine knappe Rekonstruktion von Žižeks Erläuterung der Differenz zwischen Judentum und Christentum geht, soll doch kurz angemerkt werden, dass diese Erläuterung keineswegs unproblematisch ist, da sie letzten Endes auf eine fragwürdige Aufhebung des Judentums in und durch das Christentum hinausläuft. Ich habe meine Bedenken über dieses Vorgehen an anderer Stelle ausführlich zum Ausdruck gebracht (Vogt 2006, 206–16). [^]
  4. Hier wären vor allem Žižeks Untersuchungen zum Antisemitismus hervorzuheben, denn diese zeigen auf exemplarische Weise, dass die Ideologie in phantasmatischer Manier die Begegnung mit dem Realen so inszeniert, dass die von der Ideologie registrierte Unmöglichkeit von Gesellschaft in den Diebstahl der Gesellschaft auf den "Juden" übertragen und so der Traum einer in sich geschlossenen, harmonischen und mit sich versöhnten Gesellschaft aufrechterhalten wird (Žižek 2021, 179–85). [^]
  5. Siehe jedoch Jodi Deans gegenteilige Behauptung, dass Žižek von Anfang an eine skeptische Haltung gegenüber der Demokratie einnehme (Dean 2006, 102). Obgleich der vorliegende Text Deans Darstellung von Žižeks Politik einige grundlegende Erkenntnisse verdankt, kann er Deans These, dass sich bei Žižek von Anfang an ein fundamentales Unbehagen gegenüber der Demokratie zeige, nicht folgen. Barret Weber hingegen stellt fest, dass sich bei Žižek sogar eine Art Rettung der Demokratie finde (Weber 2011, 7). [^]
  6. Siehe Reinhard Heil (2004, 249–52). [^]
  7. Zum postpolitischen Wesen der liberalen Demokratie siehe Heil (2004, 244); zur gegenwärtigen Verknüpfung von liberaler Demokratie, Kapitalismus und dem "Diskurs der Universität" siehe Dean (2006, 96–101). [^]
  8. Man denke in diesen Zusammenhang an den obszönen und rassistischen Begriff des "Ethnopluralismus", der von rechtsextremen politischen Organisationen wie der FPÖ, der Identitären Bewegung Österreich, der Lega Nord und dem Rassemblement National verwendet wird. [^]
  9. Žižeks frühe Texte operieren implizite mit einem Demokratiebegriff, der starke Affinitäten nicht nur zu Leforts Konzeption der Demokratie aufweist, sondern auch zu Laclaus (und Mouffes) Konzeption der radikalen Demokratie. Dieses Naheverhältnis kommt auch darin zum Ausdruck, dass Laclau ein Vorwort für The Sublime Object of Ideology verfasste, in welchem er zahlreiche Übereinstimmungen zwischen seinem eigenen Projekt und jenem von Žižek erwähnt (siehe Laclau 1989, ix–xv). Siehe dazu auch Heil (2004, 231). [^]
  10. Siehe Laclau/Mouffe (2020). Für eine prägnante Zusammenfassung von Laclaus und Mouffes Hegemonietheorie aus einer Perspektive, die jener von Žižek nahesteht, siehe Butler (2006, 59–70). [^]
  11. Während Žižek Laclau eine problematische, da angeblich nicht argumentativ begründete Vermischung von deskriptiver und normativer Ebene vorzuwerfen scheint, stellt Laclau völlig richtig fest, dass sein methodologischer Ausgangspunkt nicht (deskriptive) Neutralität vortäuscht, sondern von der Überzeugung getragen wird, dass eine normative Haltung nicht relativistisch auf eine bestimmte Situation beschränkt bleiben muss (Laclau 2013, 364). [^]
  12. Žižek bedient sich hier eindeutig der – von ihm an anderer Stelle kritisierten – Unterscheidung Laclaus zwischen plebs und populus; siehe dazu Fußnote 13. [^]
  13. Bei Chris McMillan findet sich eine brauchbare Zusammenfassung der wesentlichen Kritikpunkte, die Žižek gegen Laclaus Konzeption des Populismus anführt (vgl. McMillan 2013, 40–41). Matthew Flisfeder wiederholt in seiner Darlegung des Unterschiedes zwischen Žižeks "Klassenkampf" und Laclaus "Populismus" Žižeks Argument, dass das Verhältnis zwischen beiden als Gegensatz begriffen werde muss (vgl. Flisfeder 2008, 4–7) – ein Argument, das meines Erachtens problematisch ist. [^]
  14. Die innere Struktur des "Volkes" beschreibt Laclau im Sinne einer Spannung zwischen plebs und populus (Laclau 2022, 124–126), wobei die plebs als eine Partialität begriffen wird, welche den populus – "das Ensemble der sozialen Verhältnisse, wie sie faktisch sind (Laclau 2022, 125) – anficht, "um einen wahrhaft universalen populus zu konstituieren" (Laclau 2022, 226). [^]
  15. Ich hoffe, diese Lektüre an anderer Stelle aufnehmen zu können. [^]

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