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Mutoni im Un/Happyland: Die Bürde weißer Retter*innen in Tete Loepers Roman Barfuß in Deutschland

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Abstract

In Tete Loeper's novel Barefoot in Germany (2020), Black first-person narrator Mutoni from Rwanda recounts her experiences as a marriage migrant, sex worker, maid, and caregiver in Germany, a supposed "Happyland" where racism is considered the offense of "others": bad individuals and Nazis. However, Loeper's white savior characters are both nice people and (unwitting) racists, while some of Mutoni's Black sisters behave in discriminatory ways as well. Drawing on critical race theory and imagology, this article shows how the novel deconstructs and appropriates stereotypical images from "'colorblind' Europe" on both a thematic and formal-aesthetic level. By engaging with a comparative and transnational frame of reference that goes beyond a monolingual white canon of theory and literature, the article reveals the novel's connections to other Black texts and genres, as well as its literary strategies in dealing with identity (politics).

Keywords: critical race theory, imagology, white saviorism, Tete Loeper, slave narrative, African European literature

How to Cite: Folie, S. (2023) “Mutoni im Un/Happyland: Die Bürde weißer Retter*innen in Tete Loepers Roman Barfuß in Deutschland”, Genealogy+Critique. 9(1). doi: https://doi.org/10.16995/gc.10915

In literature, inclusion matters very much. (Loeper in Hofele 2022)

[G]ood literature offers us deeper, universal understandings through and beyond the specifics of particular demographics, but that doesn't mean that we don't need the specifics of particular demographics represented in our fiction. (Evaristo 2022, 177)

1. Einleitung

Mutoni, die Schwarze Ich-Erzählerin in Tete Loepers Roman Barfuß in Deutschland (orig. Barefoot in Germany),1 beschließt nach ihren Erfahrungen als Heiratsmigrantin, Zwangssexarbeiterin, Hausangestellte und Pflegerin in Deutschland wieder zurück nach Ruanda zu gehen und "den Leuten vom wahren Leben" in Europa zu erzählen: "[W]enn sie sich weigern zuzuhören, dann werde ich ein Buch schreiben und hoffentlich wird das dann jemand lesen." (157) Der intradiegetische Kommentar suggeriert, dass eben dieses Buch gerade gelesen wird – eine bewährte Strategie, um ein Gefühl von Authentizität zu verstärken. Erzählerin und Autorin fallen jedoch nicht zusammen, auch wenn die Überbetonung der autobiografischen Bezüge in einigen Rezensionen (Gareus-Kugel 2022) und Interviews (Hügle 2022) das nahelegt. Als Inspiration dienten Loeper, die selbst nie von Menschenhandel und Zwangsarbeit betroffen war, die Erlebnisse von acht Frauen, denen sie nach ihrer Migration in Deutschland begegnete (Kazibwe 2021). Die homodiegetische, intern fokalisierte Erzählerin Mutoni ist folglich kein leicht verfremdetes Alter Ego der Autorin. Diese verdichtet in ihr vielmehr eine weibliche diasporische Identität: "I am talking for a lot of people, the people who live in Germany who look like me, who have a similar background. Maybe I have the privilege that those people trust me, we have a connection. There is sympathy, empathy." (Hofele 2022)

Loepers Beschreibung ihrer intendierten Leser*innenschaft kann auch als Aufforderung an potenzielle weiße Leser*innen verstanden werden, die sich, wie die Familie Kranz im Roman, "für tolerant, fair und vor allem für 'antirassistisch' halten" (Ogette 2020, 12). Loeper macht ihnen sowohl ein Reflexionsangebot – des eigenen Weißseins und der damit verbundenen, oft unbewussten Privilegien und Vorurteile – als auch eines zur Identifikation, da Prämissen der Antirassismusarbeit aus der subjektiven Perspektive Mutonis vermittelt werden. Als Figur, die wiederholt Rassismus erfährt, provoziert sie dabei die Haltung der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die glaubt, "sich nicht mit den eigenen alltäglichen ausländerfeindlichen oder rassistischen Tendenzen auseinandersetzen" (Sow 2018 [2008], 39) zu müssen – und es daher auch nicht tut. Laut Tupoka Ogette (2020, 58) ist diese "kollektive Wissensverdrängung" kennzeichnend für das deutsche "Happyland", eine "Welt, in der Rassismus das Vergehen der Anderen" (19), schlechter Menschen und Nazis, ist.2

Mit der literarischen Darstellung des Eigenen und Anderen beschäftigt sich das Forschungsfeld der Imagologie, das für die Analyse kulturübergreifender Fremd- und Selbstbilder einen Abgleich sowohl mit den gesellschaftspolitischen Kontexten vorsieht als auch mit möglichen Intertexten, d.h. dem Bild- und Stereotypenrepertoire, auf das ein literarischer Text zurückgreift (Leerssen 2016, 19–21). Laut dem Imagologen Joep Leerssen wird Europa in der gegenwärtigen crise de la conscience européenne von jenen neu definiert "who dissociate from it" (2021, 87). In vielen Texten von Autor*innen der afrikanischen Diaspora stellen race und insbesondere das Weißsein – "die verkannte Strukturkategorie Europas und Deutschlands" (Arndt 2009, 24) – einen wichtigen, bislang jedoch von der Imagologie vernachlässigten Aspekt dar.

Dieser Artikel zeichnet unter Bezugnahme auf die Imagologie und die critical race theory Loepers Dekonstruktion und Appropriation des "machtvolle[n] Narrativ[s] von Europa als 'farbenblindem' [colorblind] Kontinent [nach], der weitgehend von der zerstörerischen Ideologie unberührt geblieben sei, die er in die ganze Welt exportierte" (El-Tayeb 2018 [2011], 28). Zu dieser Ideologie gehört die Idee der weißen Vorherrschaft wie auch die "Bürde des weißen Mannes", die besagt, dass vermeintlich fortschrittliche Weiße die Bürde tragen, vermeintlich rückständigere Bevölkerungsgruppen of color zu zivilisieren. Der Roman hinterfragt diese Scheinlegitimation des europäischen Kolonialismus, indem simplifizierende, aber immer noch wirkmächtige Europa- und Afrikabilder korrigiert und komplexifiziert werden. Im Zuge der nachfolgenden Analyse dieser Bilder wird ihre Verbindung mit der historischen und modernen Sklaverei wie auch mit dem (Neo-)Kolonialismus herausgearbeitet. Dadurch wird die Kontinuität des Klischees weißer Retter*innen sichtbar, das wesentlich für den vorherrschenden Rassismus 'der Anderen' mitverantwortlich ist und eine große Bürde für BIPoC in Deutschland darstellt.

Ein übergeordnetes Ziel des Beitrags besteht darin, exemplarisch zu zeigen, dass afrikanisch europäische Literaturen, die für bzw. mit Schwarzen Menschen in Deutschland sprechen und auf die Identifikation und Selbstreflexion ihrer Leser*innen setzen, keineswegs eine Bedrohung für das kritische Lesen darstellen (Baßler 2021). Romane wie Barfuß in Deutschland verlangen professionellen Leser*innen aber mitunter einen etwas anderen – dezidiert komparatistischen und über einen traditionellen weißen Literatur- und Theoriekanon hinausgehenden – Referenzrahmen ab. Dieser ermöglicht es, Verweise auf Schwarze afrikanische und afrikanisch diasporische Texte und Genres zu erkennen und neben thematischen Bezügen auch literarische Strategien im Umgang mit Identität und Identitätspolitik differenziert in den Blick zu nehmen.

2. Vom Traum Europa und einem Land namens Afrika

Die klischeehafte Gegenüberstellung von Afrika und Europa nimmt im Roman viel Raum ein. Während Mutoni Europa zunächst als Inbild einer liberalen, wohlhabenden und technisch fortschrittlichen Gesellschaft imaginiert und ihrer patriarchal organisierten, armen und rückschrittlichen Heimat Ruanda gegenüberstellt, entpuppt sich ihr Traum von Europa mit ihrer Ankunft in Deutschland als scheinbar nicht enden wollender Alptraum. Dieser Prozess der Desillusionierung und 'Bildkorrektur' betrifft nicht nur Mutonis Fremdbilder, sondern auch jene, die Menschen in Deutschland von Afrika haben. Im folgenden Abschnitt wird gezeigt, dass der Roman nicht nur eine Umwertung des Eigenen und Anderen, sondern vielmehr eine Komplexifizierung dieser vermeintlich statischen Opposition anstrebt.

Zu Beginn des Romans wird in einer Analepse die Lebensgeschichte von Mutonis Mutter, Nirere, geschildert, die "während des Völkermords an den Tutsi im Jahr 1994 ihre ganze Familie verloren und als einzige ihrer acht Geschwister überlebt hatte" (9). Diese kurze, in einem stinkenden und staubigen Kigali spielende Vorgeschichte verweist, zusammen mit dem Titel Barfuß in Deutschland, auf den Memoirenband Frau auf bloßen Füßen, in dem die ruandische Schriftstellerin Scholastique Mukasonga die Lebensgeschichte ihrer im Tutsizid ermordeten Mutter und zugleich die Geschichte Ruandas als dem "Land der Mütter Courage" (Mukasonga 2022 [2008], 153) erzählt. Während Nirere derselben Generation Überlebender angehört wie Mukasonga, zählt Mutoni bereits zu jenen Nachkommen, die die (pseudo-)ethnische Segregation der ruandischen Gesellschaft nicht mehr selbst miterlebt haben. Wenn Mutoni jedoch beschreibt, dass sie im Gegensatz zu ihrer Mutter und ihrer Schwester Tendeza keine "schmale Nase [hatte], die sie vor dem Drama bewahrte, gefragt zu werden, ob sie Hutu oder Tutsi sei" (14), wird das Nachwirken des kolonialrassistischen Erbes deutlich. Die Kolonialmacht Deutschland (und später Belgien) hatte die ursprünglich flexible soziale Klasse der Tutsi (Rinderzüchter) auf Basis bestimmter äußerer Merkmale (helle Haut, große Statur, schmale Nase) zur überlegenen bzw. europäischeren 'Rasse' erklärt und damit deren Vorherrschaft gegenüber der Hutu-Mehrheit (Ackerbauern) gefestigt. Obgleich in Ruanda seit dem Genozid an den Tutsi die gemeinsame Geschichte, Sprache und Kultur beider Gruppen betont wird, sitzt die durch die pseudowissenschaftliche 'Rassenlehre' hervorgerufene Spaltung tief (Gabrielli 2022). Von einem europäischen – weißen – Schönheitsideal zeugt auch Mutonis Beschreibung ihrer ehemaligen Mitschülerin Sonia Mukamana, die in Hamburg lebt und deren Fotos auf Facebook "von einem Leben" zeugen, das für Mutoni "wie das bestmögliche aussah":

Sie posierte immer mit schicken Autos, in Restaurants und vor großen Gebäuden. Sonia, die früher so dunkel wie eine Asphaltstraße gewesen war, hatte sich in eine muzungu verwandelt. Sie trug Perücken mit langen, geglätteten Haaren und helles Make-up auf ihrer gebleichten Haut. (15)

Der kursiv gesetzte Begriff muzungu erschließt sich – wie auch die meisten anderen auf Kinyarwanda oder Swahili im Roman – aus dem Kontext; im Glossar, das dem deutschen Romantext nachgestellt ist, kann zudem nachgelesen werden, dass diese Bezeichnung für weiße Menschen "in vielen afrikanischen Ländern verwendet wird" (174). In der obigen Verwendungsweise Mutonis ist der Begriff überwiegend positiv konnotiert. Der Traum von Europa und von einem besseren Leben ist für sie eng mit der Vorstellung, weiß(er) zu werden, verbunden, was "gleichzeitig [als] ein Symptom und eine Konsequenz weißer Vorherrschaft" (Roig 2021, 97) begriffen werden kann.

In Vorbereitung auf ihre Reise nach Deutschland, wo sie dank Sonia ein heiratswilliger weißer Deutscher erwarten soll, versucht sich Mutoni mittels eines teuren geschneiderten Kostüms und Schuhen mit hohen Absätzen zu "europäisieren" (28) – ein finanzieller Aufwand, der ihr gerechtfertigt erscheint: "Schließlich bedeutete in Europa zu leben, reich zu werden, sehr gut zu riechen und vor allem, 'Diaspora' genannt zu werden, wenn ich zu Besuch nach Hause kommen würde." (23) "Diaspora" fungiert für Mutoni hier (noch) nicht als Identitätskonzept, das gemeinsame Rassismuserfahrungen zum Ausdruck bringt und zur Stärkung des politischen Bewusstseins wie auch zur Schaffung eines generationenübergreifenden Erinnerungsraums beitragen kann. Sie verwendet den Begriff vielmehr als vage, mit dem hohen sozialen Status nach Europa Ausgewanderter verknüpfte Fremdbezeichnung.

Bei ihrer Ankunft am Hamburger Flughafen indes friert Mutoni, ist desorientiert und ihre Füße schmerzen. Deshalb und auch, weil sie bemerkt, dass die meisten anderen Menschen am Flughafen bequem gekleidet sind, zieht sie ihre Schuhe aus. Die Barfüßigkeit, die sich leitmotivisch durch den Roman zieht, steht dabei keineswegs für Kapitulation und das europäische "Bild von der Kulturlosigkeit Afrikas und der Primitivität seiner Menschen, das zur Verteidigung des Sklavenhandels und später der Kolonialisierung und Ausbeutung geprägt worden war" (Michael 2022 [2013], 158). Stattdessen ist sie seit Mukasonga mit einer weiblichen ruandischen Erinnerungskultur verknüpft und versinnbildlicht Einsicht, Mut und Resilienz. Auch Mutoni erlebt einschneidende Übergangsmomente im Prozess ihrer Desillusionierung unbeschuht: So nimmt sie etwa nach ihrer 'Erdung' am Flughafen die aus der Ferne positiv bewertete Verwandlung Sonias in eine muzungu als missglückte Imitation wahr: "[I]hre Haut [war] ähnlich gemustert [] wie eine Militäruniform. Sie hatte helle und dunkle Flecken, da die Aufhellungsprodukte, die sie offensichtlich benutzte, anscheinend nicht überall gleich wirkten." (32)

Während Mutonis veränderte Wahrnehmung von Sonias äußerlicher Transformation auf Irregularitäten in ihrer eigenen Migration vorausweist, gemahnt der sprechende Name des Hamburger Einkaufszentrums "Europa Passage" (41), in dem sie ihre ersten Einkäufe tätigt, an historische Migrationen und Transfers. Leser*innen, die mit Schwarzer Geschichte und afrikanischer Diaspora-Literatur vertraut sind, wird die Europa Passage (im englischen Original noch mehr als in der deutschen Übersetzung) an die "Middle Passage" erinnern – jene Etappe des transatlantischen Versklavungshandels, in der Millionen Afrikaner*innen im Rahmen des Dreieckshandels in die Amerikas verschleppt wurden. Der Erlös floss in Produkte, die zurück nach Europa – auch nach Hamburg, Deutschlands Kolonialmetropole – gingen. Die Europa Passage verweist in diesem Kontext darauf, dass die Routen des Menschen- und vor allem Frauenhandels heute häufig direkt von Afrika nach Europa führen (Kreutzer und Milborn 2008), wohin die Händler*innen ihre 'Ware' in der Regel nicht mehr verschleppen (lassen), sondern mit Versprechen von schnellem Wohlstand locken. Das stellt ein zentrales Thema in "neokolonialen Versklavungserzählungen" wie Chika Unigwes Roman On Black Sisters' Street (2011 [2007]) und Sudabeh Mortezais Spielfilm Joy (2018) dar, die sich mit dem Frauenhandel zwischen Nigeria und Belgien bzw. Österreich befassen (Folie 2023). Wie diese schreibt sich auch Barfuß in Deutschland in das Genre der slave narratives – autobiografische Berichte ehemals versklavter Menschen des 18. und 19. Jahrhunderts – ein, weicht durch die Fiktionalisierung und den Gegenwarts- und Europabezug aber auch davon ab.

Mutonis Reise nach Europa erfolgte freiwillig und legal, über ein dreimonatiges Touristenvisum. Ihr vermeintlicher Verlobter, der ihr dazu verholfen und das Geld für die Reise ausgelegt hat, entpuppt sich indes als Frauenhändler und Zuhälter:

"Ihr tut doch alle nur so naiv", zischte er mich an. "Ich bin schon lange in diesem Geschäft. Alle Mädchen, die wir hierherholen, spielen zunächst die Ahnungslose und behaupten, nicht zu wissen, warum sie hierhergekommen sind. Dann weinen sie und betteln, dass sie ihre Pässe zurückbekommen, und wollen sofort wieder nach Hause. Aber am Ende machen sie immer die Arbeit." Er grinste mich fies an. "Manche schaffen es, ihre Schulden zu begleichen und werden zu freien Menschen." (53)

Die bisher beschriebenen Fremdbilder – das nachahmenswerte Weißsein vs. die zum Scheitern verurteilte Imitation, der Traum von Europa vs. die traumatische Europa Passage – orientieren sich stark an der Umwertung eines zunächst positiv besetzten weißen Europas. Der ruandische Intertext Nyeganyega, ein Lied des Musikers Massamba Intore, hält für Leser*innen, die es kennen oder den Songtext auf Kinyarwanda recherchieren, jedoch einen Hinweis darauf bereit, dass die im obigen Zitat beschriebene Praxis der Täter-Opfer-Umkehr nicht singulär weiß und europäisch ist. Intore warnt in seinem Lied junge Schwarze Afrikanerinnen, ihren Körper nicht für ein leichtes Leben im Ausland zu verkaufen, und deutet an, dass migrierte Sexarbeiterinnen ihr Schicksal selbst verschulden. Dem steht die gelebte Praxis gegenüber, dass Eltern und Verwandte nicht so genau nachfragen, wenn ihre Kinder nach Europa gehen; nicht zuletzt, weil sie, wie auch Sonias Eltern, auf deren finanzielle Unterstützung angewiesen sind. Dass Mutoni zu dem Lied tanzt, legt eine gewisse Zustimmung nahe, die jedoch vor allem in der unterschiedlichen Intention und Position des weißen Zuhälters und Schwarzen Musikers angelegt ist. Das victim blaming des einen verfolgt das Ziel, Sexarbeiter innen wie Sonia durch ihre Scham zum Schweigen zu bringen, damit weitere Frauen wie Mutoni 'freiwillig' nachkommen. Intore hingegen verurteilt migrierte Sexarbeiterinnen, um die nächste Generation zu warnen. Abgesehen vom Sexismus, der dem Lied ebenso eingeschrieben ist wie der Aussage des Zuhälters, will Intore wie auch Mutonis Tante Rose vor einem "schändliche[n] Leben im Ausland" (37) warnen. Diese Warnung korreliert mit Mutonis heranreifendem Entschluss, nach Ruanda zurückzukehren und "den Leuten vom wahren Leben" (157) in Deutschland zu erzählen.

Dem (Alp-)Traum Europa setzt Mutoni nach ihrer Flucht aus dem Bordell aber erst einmal abwertende Beschreibungen der Deutschen entgegen. Den Tee, den ihr die hilfsbereite weiße Deutsche Anna Kranz bringt, als sie sie barfuß und frierend am Hamburger Hauptbahnhof antrifft, hätte "niemand in Ruanda" als Tee bezeichnet, "[v]ielleicht heißes Wasser, wie man es trinkt, wenn man krank war" (76f.). Annas Kleidung wirkt auf Mutoni unmodisch, die vegetarische Kost, die sie ihr bei sich in der Wohnung anbietet, karg und primitiv. Beobachtungen, wie dass Anna immer "so hungrig aussieht" (82), parodieren und appropriieren jene mitleidigen Gefühle, die Anna und weitere weiße Charaktere anstelle von Empathie auf Mutoni und viele Schwarze Menschen aus Afrika projizieren. Mutonis generalisierende Urteile über die Deutschen, die "beim Essen eher auf den Preis als auf die Qualität achten" und "sich nicht kleiden, sondern nur was anziehen, um nicht nackt herumzulaufen" (117), kulminieren in einem Brief an ihre Schwester Tendeza, in dem sie schreibt, dass "[a]lles", was sie bisher in Deutschland gesehen habe, "Bettler" seien:

Ja, die Leute betteln hier. Stell dir einen bettelnden muzungu vor. Das klingt unmöglich, oder? Aber sie tun es, glaub mir. Einmal habe ich einem Mann einen Euro gegeben. Danach stellte ich mir die Schlagzeile vor, so in der Art: 'Hungrige Menschen in Deutschland, Mutoni Christine, ein schwarzes Mädchen aus Ruanda, half einem armen weißen Mann, sich ein Mittagessen zu kaufen, indem sie ihm einen Euro gab.' (115, kursiv im Orig.)

Diese Art der Blickumkehr gehört spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Repertoire Schwarzer Literatur: von James Baldwins Stranger in the Village (1953) und Bernard Dadiés Un nègre à Paris (1959) über Dualla Misipos Der Junge aus Duala (2022 [1973]) und Ama Ata Aidoos Our Sister Killjoy (1977) bis hin zu Noah Sows Die Schwarze Madonna (2019). Der umgekehrte ethnografische Blick bzw. die "Provinzialisierung von innen" (Zocco 2023) dient afrikanischen und afrodiasporischen Autor*innen dazu, auf die Konstruiertheit weißer europäischer Afrikabilder aufmerksam zu machen und die Gegenüberstellung eines aufgeklärten, progressiven Europas und eines primitiven, rückschrittlichen Afrikas herauszufordern. Wenn Mutoni die Deutschen als derb, geschmacklos oder gar als Bettler*innen bezeichnet, ist das allerdings nicht bloß als simple Umkehrung der Perspektive zu verstehen. Vielmehr handelt es sich, wie im Falle der Ethnologin Heike Behrend, die während ihrer Forschungsaufenthalte in Ostafrika von Einheimischen als "Affe, Närrin oder Clown, Hexe, Spionin, böser Geist und Kannibale" (Behrend 2020, 15) bezeichnet wurde, um eine Figur der "wechselseitigen Spiegelungen von Fremd- und Selbstbildern", die auch eine "Replik auf die eigene koloniale Erniedrigung und Diskriminierung" (16) beinhaltet.

Barfuß in Deutschland setzt diese Spiegelung gekonnt ein und nutzt dabei das rassistische Bild von kolonisierten Schwarzen Afrikaner*innen, die sich allenfalls notdürftig kleiden, um nicht komplett nackt – und barfuß – herumzulaufen, essen, um nicht zu verhungern, und betteln, weil sie ohne die Hilfe weißer 'Retter*innen' nicht überlebensfähig sind. Von einer schlichten Reproduktion kulturalistischer Klischees unterscheidet sich diese Art der Blickumkehr deshalb, weil sich Afrikaner*innen und Menschen der afrikanischen Diaspora von weißen Europäer*innen weiterhin als rückständige Bettler*innen darstellen lassen müssen, während letztere auf vergleichbare Charakterisierungen wahlweise mit Gleichgültigkeit, Naserümpfen oder aber dem Vorwurf des 'umgekehrten Rassismus' reagieren können, ohne sich in irgendeiner Form mit ihren weißen Privilegien auseinandersetzen zu müssen.

Das stereotype Fremdbild eines homogenen 'Landes namens Afrika' wird im Roman allerdings nicht ausschließlich von weißen Deutschen reproduziert. Als Mutoni freudig von ihrer Erwartung spricht, in Deutschland aufgrund der günstigen Fleischpreise zur Kibonge, einer beleibten Frau, zu werden, fragt Ligaya, eine migrierte Sexarbeiterin von den Philippinen, sie verwundert, ob das denn "in Afrika eine gute Sache" (47) sei. Mutoni korrigiert sie höflich und fast beiläufig: "Ich weiß nicht, wie es in ganz Afrika ist, aber in Ruanda, ja. Wenn du dünn bist, denken die Leute, du bist arm oder hungrig." (47) Die nächsten Male, als Mutoni mit Verallgemeinerungen Afrikas konfrontiert wird, ist sie ungehaltener. An der Küchenwand von Annas wohlhabender Mutter Sylvia, die Mutoni nach ihrer Flucht aus dem Hamburger Rotlichtmilieu bei sich aufnimmt, hängen "Einladungen zu Benefizveranstaltungen, um hungrigen Kindern in Afrika zu helfen" (94). Auch betont Sylvia vor Mutoni stolz, dass Anna in Afrika gelebt habe. Dennoch macht sie ignorante und abwertende Aussagen, wie z.B. dass es in Afrika sicher "sehr viele Brände" gebe, "wenn die Leute auf Holz kochen" (95), oder dass dort wohl "Plastik, Papier, Kompost…alles in eine Tonne" (98) geworfen werde. Auf diese Unterstellungen, die ein Bild von einem rückständigen, "unordentlichen Afrika voller Müll" (98) evozieren, entgegnet Mutoni, sie sei "nicht durch ganz Afrika gereist" (95), in Kigali würden sie aber jedenfalls nicht auf Holz kochen und es sei dort "sogar sauberer als hier" (98). Statt, wie Ligaya, nachzufragen und zuzuhören, verlässt Sylvia mit einem skeptischen Blick wortlos die Küche und schließt die Tür hinter sich.

Da Mutoni ihre Heimatstadt Kigali auf den ersten Seiten des Romans als stinkend und dreckig beschrieben hat, tun sich erste Zweifel an der Zuverlässigkeit der Erzählerin auf. Ist es ihre Wut über Sylvias Ignoranz, die sie dazu veranlasst, der klischeehaften "deutschen Sauberkeit" eine ruandische entgegenzusetzen? Während sich für Leser*innen, die eine Abwehrreaktion Mutonis vermuten, Klischees eher noch verhärten mögen, legt eine informierte, kontextsensible Lektüre nahe, dass die Konfrontation mit Sylvias verletzendem Fremdbild zu einer Aktualisierung des Selbstbildes der Ich-Erzählerin führt. Mutoni blickt zu Beginn des Romans in die Vergangenheit zurück. Das Erscheinungsbild der ruandischen Großstadt hat sich seit den späten 1990er und frühen 2000er Jahren allerdings grundlegend verändert: Kigali gilt seit 2015 als die sauberste Stadt Afrikas, wenn nicht gar der Welt (Twahirwa 2018). Dass dies in das Allgemeinwissen der meisten Deutschen keinen Eingang gefunden haben dürfte, ist nicht weiter verwunderlich; dass aber auch die Ich-Erzählerin diese Veränderung zunächst unerwähnt lässt, weist darauf hin, dass internalisierte Selbstbilder sich nicht immer (sofort) durch veränderte Tatsachen überschreiben lassen, manchmal aber durch ein Fremdbild, das sich auf erschreckende und ernüchternde Weise mit dem internalisierten Selbstbild deckt.

Dass einige Charaktere, die Mutoni in Deutschland trifft, selbst bereits in Afrika waren, oder ein Elternteil haben, das aus einem afrikanischen Land stammt, feit sie nicht vor verallgemeinernden Aussagen. Beim Schuhkauf in der Europa Passage fragt eine weiße Deutsche Mutoni, ob sie aus Tansania komme, da sie so schön sei wie die Leute, die sie dort getroffen habe. Eine vergleichbare Situation ereignet sich, als der Schwarze Deutsche Jan Bakotesa mutmaßt, sie müsse aufgrund ihrer Schönheit entweder aus Äthiopien oder Ruanda sein. Diese kontrastiven Parallelszenen, in denen einmal ein weißer und einmal ein Schwarzer Charakter übergriffig-exotistisch agieren, erinnern an die Verallgemeinerungen Afrikas seitens Ligayas und Sylvias. Es sind wiederum weniger die Vorannahmen, die für die größte Irritation sorgen – Mutoni fühlt sich sogar "geschmeichelt" (131) –, als vielmehr die unterschiedlichen Reaktionen auf ihre Antwort. Während Jan ihr von seiner eigenen afrikanisch deutschen Familie zu erzählen beginnt, wird sie von der weißen deutschen Frau gefragt, ob "sich die Menschen dort [in Ruanda] immer noch gegenseitig um[bringen]" (44). Mit dieser Frage, die auf den Völkermord 1994 an den Tutsi in Ruanda anspielt, reduziert die Deutsche die Nation auf den Genozid, der noch nicht einmal als solcher benannt wird. Dadurch normalisiert, enthistorisiert und dekontextualisiert sie ihn, "assuming that yeah in those African countries such things happen." (Somfechi 2021, 05:38–05:40). Darüber hinaus ist die Frage repräsentativ für ein im Westen immer noch mächtiges Narrativ, das "jegliche Art von Machtdynamiken, historische Quellen und Hierarchien" ausblendet und "die Opfer als nicht identifizierbare Massen" (Roig 2021, 98) darstellt. "Ein solches Narrativ hat nicht nur eine entmenschlichende Wirkung, es trägt zur Ausradierung der Altlasten des Kolonialismus bei." (98)

Mutonis Reaktion – sie sah die Frau "schockiert an und fragte: 'Welche Menschen? Ist das alles, was du über Ruanda weißt?'" (44) – scheint auch an jene Leser*innen gerichtet, die sich aufgrund ihrer Uninformiertheit ertappt fühlen und im realen Leben vielleicht ebenso wie die weiße Frau davonlaufen würden. Wie diese werden auch die Leser*innen nicht über den Zusammenhang zwischen dem Genozid und dem europäischen Kolonialismus aufgeklärt. Loeper will weder dozieren noch durch detailreich geschilderte Gräuel Mitleid erregen. Vielmehr setzt sie durch wiederkehrendes strategisches Schweigen – hier eingeleitet durch Mutonis rhetorische Gegenfrage – Impulse, Leerstellen selbständig zu füllen. Dieses Nicht-Auflösen weißer Rassismen erinnert an die Scheindialoge in frühen Gedichten May Ayims, in denen weiße Textsubjekte an ein Schwarzes 'stummes' bzw. für Leser*innen nicht vernehmliches Gegenüber gerichtet vor sich hin monologisieren und sich als das entlarven, was sie zu sein verneinen.3 So setzt das Gedicht Das sind Menschen wie wir mit der Rechtfertigung ein: "Nee! Wir haben wirklich nichts gegen die Schwarzen / Meine Frau und Ich / wir fahrn ja auch jedes Jahr nach Afrika", und geht in die Forderung über, keine "Millionen Entwicklungshilfe" mehr "auf den schwarzen Kontinent zu blasen", weil "die Afrikaner / [die] auf 'ner andern / Entwicklungsstufe stehn", mit dem Geld nur "Aufrüsten und / sich gegenseitig / die Köppe einschlagen." (Ayim 1997 [1986], 136).

3. Von weißen Retter*innen und Schwarzen Schwestern

Die Strategie des Schweigens – dass Leser*innen ebenso wie die Charaktere nicht explizit über die Hintergründe, Funktionsweisen und Konsequenzen rassistischer Handlungen aufgeklärt werden – kommt besonders häufig in Zusammenhang mit den weißen 'Retter*innen' zum Einsatz. Diese entlarven sich, wie die Textsubjekte bei Ayim, selbst oder gegenseitig, indem ihr individuelles rassistisches Handeln nicht erklärt wird, sich aber akkumuliert und so seinen systemischen Charakter offenbart. Darüber hinaus hinterfragt der Roman mithilfe kontrastiver Parallelszenen, die verdeutlichen, dass auch Schwarze Charaktere weiße, rassistische Fremdbilder internalisiert haben, das positive Stereotyp einer bedingungslosen Solidarität unter 'Schwarzen Schwestern'. Im Folgenden wird gezeigt, dass der Roman weder die weißen Retter*innen noch die Schwarzen Schwestern als homogen und ausschließlich negativ/positiv bzw. in dieser Bewertung umkehrbar präsentiert.

Mutonis weiße Retterin Sylvia wird von ihr zunächst als freundlich und aufgeschlossen beschrieben. Sie bemüht sich, obgleich ihr Englisch "nicht perfekt" (88) ist, um die Kommunikation, verfällt aber auch in Mikroaggressionen, wenn sie fragt, ob Mutoni denn überhaupt Sonnencreme brauche, und ihr ungefragt in die Haare fasst. Für Mutoni wiegt nach ihrer Flucht aus dem Hamburger Rotlichtmilieu aber erst einmal stärker, dass Sylvia ihr anbietet, bei ihr leben zu können. Nach den täglichen Vergewaltigungen, die ihr Leben in Deutschland bisher ausmachten, fühlt sie sich angenommen und geborgen. Die Ermahnung von Sylvias Tochter Anna, dass Mutoni dafür "auch was tun" müsse, wird lächelnd und "mit gespieltem Ernst" (91) vorgebracht. Es wird sich aber bald herausstellen, dass Mutoni vielmehr Dienstbotin und Pflegerin als Familienmitglied ist. Sie bekommt ein Zimmer im Keller des großen Hauses zugewiesen und ihre Frage, ob sie nicht im wärmeren Obergeschoß schlafen könne, stößt auf Unverständnis:

"Wirklich?", fragte Anna leicht spöttisch. "Schau mal, hier hast du rund um die Uhr Wasser und Strom. Ist das etwa kein Luxus? Ich erinnere mich, dass wir das in Uganda nicht hatten…"

"Anna hat in Afrika gelebt, weiß du?", meinte Sylvia mir erklären zu müssen. "Wir waren uns einig, dass du hier gut untergebracht bist." (93)

Anna und Sylvia stellen Mutoni als undankbar dar und vergleichen ihre Lage mit jener Annas als weißer Mitarbeiterin einer NRO in Uganda, die "nicht nur temporär und freiwillig sowie nicht durch finanzielle oder politische Not erzwungen" war, sondern "umgekehrt auf Privilegien [basierte], die nicht allen Menschen auf der Welt gleichermaßen zugänglich sind" (Roig 2021, 93). Dass Mutonis Organismus sich noch nicht an das veränderte Klima angepasst haben und ein wärmeres Zimmer ihr diese Anpassung erleichtern könnte, erwägen weder Anna noch Sylvia. Diese Empathielücke in Bezug auf das Kälteempfinden ruft, ähnlich wie das Anfassen der Haare, kolonialrassistische Bilder ab. Aus Fotos und Aufzeichnungen von Völkerschauen in Europa geht hervor, dass die ausgestellten BIPoC ungeachtet der Temperaturen oft in einfachen Lehm- oder Holzhütten hausen und sich halb nackt präsentieren mussten (Michael 2022 [2013], 18–22).

Zum vom Rest der Familie abgegrenzten, kalten Wohnraum kommt für Mutoni ein straffer Tagesplan hinzu. Sie hatte

täglich die drei Badezimmer im Haus zu putzen, die Mülltonnen herauszubringen, wöchentlich das ganze Haus zu putzen (vier Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, ein Abstellraum, eine Küche, ein Esszimmer und ein Büro), die Wäsche zu waschen und zu bügeln. Und Bernhard [den im Rollstuhl sitzenden Sohn Sylvias] überall dorthin zu bringen, wo er hinwollte. (96)

Mutoni führt diese Tätigkeiten, im Gegensatz zur Sexarbeit, freiwillig aus. Da sie in großer Angst vor dem Rotlichtmilieu lebt und nur über ein Touristenvisum und keinerlei monetäre Ressourcen verfügt, stellt sich ihre Situation jedoch einigermaßen alternativlos dar. Mutonis informelles Arbeitsverhältnis bei der Familie Kranz gemahnt an globale Betreuungsketten, in denen "Frauen aus der ganzen Welt […] gefangen [sind] und [] wie Sklavinnen in Haushalten des Globalen Nordens [arbeiten]" (Roig 2021, 256). Handelt es sich um sogenannte illegale Migration, befinden sich die Frauen in einer Grauzone, deren Grenze zur modernen Sklaverei fließend verläuft (Global Slavery Index 2018). Auch auf semantisch-lexikalischer Ebene wird ein Bezug zur Sklaverei hergestellt, wenn eine Kollegin Mutonis Sylvia als deren "Madam" (157) bezeichnet – eine im deutschsprachigen Raum veraltete Anrede für eine Hausherrin, die heute auch als Berufsbezeichnung für Zuhälterinnen fungiert. Der Roman deutet hier eine Kontinuität und Ähnlichkeit zwischen Mutonis Zeit als Zwangssexarbeiterin in Hamburg und ihrem Aufenthalt bei der Familie Kranz im südbayrischen Wellheim an. Eine strukturelle Problematik, die Loeper dadurch verhandelt, ist, dass die Schicksale von geflüchteten und migrierten Menschen in Deutschland nicht selten in die Hände von Individuen – Frauenhändlern und Zuhältern oder wohltätigen Bürger*innen wie den Kranz' – fallen, was diesen eine unbotmäßige Macht über sie verleiht. Dadurch werden verschiedene Formen moderner Sklaverei begünstigt, die im Roman manchmal eindeutiger und manchmal weniger eindeutig als solche zu bestimmen sind.

Wie bereits Annas und Sylvias Entgegnung auf Mutonis Frage nach einem wärmeren Zimmer andeutete, gehen beide schnell in die Defensive, wenn sie mit einer unerwarteten und ihrer Meinung nach inadäquaten Reaktion konfrontiert sind. So auch, als Anna Mutoni aufgewühlt anruft und ihr von einem Vorfall rassistisch motivierter Polizeigewalt berichtet. Nicolas, ein Schwarzer Freund Annas, wurde fälschlicherweise von der Polizei überwältigt und festgenommen. Anna regt sich jedoch nicht über dieses Vergehen auf, sondern über ihren Freund:

Nicolas hat mich angeschrien und eine Rassistin genannt, bloß weil ich gesagt habe, dass die Polizei nur ihren Job gemacht hat und sie nicht wissen konnten, dass er nicht derjenige ist, den sie suchten! Ich habe ihm geantwortet, dass er mich nicht gut kennt, dass ich nicht seinem Vorurteil entspreche. Dass ich immerhin zwei Jahre in Uganda gelebt habe und mein Ex-Freund schwarz ist. Und dann habe ich ihm noch erzählt, dass wir dich in unsere Familie aufgenommen haben, dass du schwarz bist und ich dich sehr lieb habe. (102)

Annas Abwehrreaktion ist ein typisches Beispiel für white whine bzw. weiße Zerbrechlichkeit: "Personen, die gerade rassistisch gesprochen oder gehandelt haben, geben oft an, dass sie sich in erster Linie unverstanden fühlen" (Sow 2018 [2008], 88), was darauf abzielt, "die Person zu bestrafen, die Rassismus benannt hat, und vor allem, diese Person einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen" (Ogette 2020, 27). Sylvia reagiert ähnlich, als Mutoni ihr gegenüber rassistisches Verhalten benennt. Sie gibt ihr den Rat, "nicht so empfindlich" und "ungerecht" zu sein, und wirft ihr vor, dass für sie "immer alles gleich rassistisch" sei (119). Beide Male ist Mutoni schockiert und merkt, dass ihre neue 'Familie' sie nicht versteht. Sie hat aber keine Kraft, die ohnehin wenig aussichtsreiche Überzeugungsarbeit zu leisten.

An diesen Punkt des Schweigens – eine Strategie im Umgang mit racial stress – gelangt Mutoni wiederholt. Besonders deutlich zeigt sich das an ihrer Reaktion auf Sylvias Frage, warum Afrikaner*innen aus Ländern, in denen kein Krieg herrsche, überhaupt nach Deutschland kämen: "Die Hölle könnte zufrieren, bevor sie das verstehen würde, dachte ich. Ich wollte diese Diskussion nicht führen. Sylvia würde keine Einsicht zeigen, und für mich würden sich daraus nur Nachteile ergeben." (106) Die hier "unterstellte Unmöglichkeit, verstanden zu werden" (Hahn 2013, 41), die eine Unkommunizierbarkeit markiert und gleichsam eine Selbstschutzstrategie im Umgang mit dieser darstellt, führt auf der Rezeptionsebene dazu, dass Leser*innen ebenso wenig wie die Figuren, die sich rassistisch verhalten, über dieses Verhalten aufgeklärt werden. Statt Erklärungen von Erzählerinnenseite kommen, neben der bereits in Zusammenhang mit der weißen Frau im Einkaufszentrum erwähnten rhetorischen Frage, Stilmittel wie Analogie und Klimax zum Einsatz, um Leser*innen die Systematik hinter den vermeintlich individuellen Rassismen vorzuführen.

Eine Nebenfigur, in der sich bestimmte Rassismen ebenso wie das weiße Retter*innentum bündeln und verstärken, ist Johannes, ein ehemaliger Freier Mutonis. Er hat in mehreren afrikanischen Ländern gearbeitet und hält sich wegen seiner "sexuelle[n] Abenteuer mit Frauen verschiedener Nationalitäten" (58) für aufgeschlossen:

Er nannte sich selbst einen "Menschenfreund", aber er schämte sich nicht zu schildern, wie er von den jungen sudanesischen Mädchen in dem Flüchtlingslager, in dem er arbeitete, eine Menge über Sex gelernt hatte. Seine Geschichten ekelten mich an. Er sagte, dass die Frauen in Burundi sich ihm leicht hingaben, nur weil er weiß sei. Wäre er klug gewesen, hätte er gewusst, dass sie sein Geld wollten und nicht seine Hautfarbe. (59)

Während eine gewisse Exotisierung bereits bei der Betonung von Mutonis Schönheit durch die weiße Frau im Einkaufszentrum und Jan Bakotesa anklang, verkörpert Johannes deren Steigerung: die rassistische Fetischisierung Schwarzer Frauen. Mag es sich bei der Frau im Einkaufszentrum, Jan und Johannes auch um unterschiedliche Grade diskriminierenden Verhaltens handeln, steht letztlich das gleiche Erbe und System dahinter. Wenn Johannes sich über die vermeintliche Dummheit Mutonis und anderer Afrikanerinnen, die nach Europa kommen, lustig macht, bedient er, ebenso wie Sylvia, "[e]ine Rhetorik, die sich auf die Wahl fokussiert" und "die gesellschaftlichen Strukturen aus[blendet], die zu Armut und einem Mangel an Wahlmöglichkeiten führen. Die Arbeitsmarkt- und Einwanderungseinschränkungen der EU-Staaten lassen viele Menschen Jobs annehmen, die sie nicht 'frei' auswählen – inklusive der Sexarbeit" (Roig 2021, 257). Der Entwicklungshelfer Johannes, der glaubt die "Bürde des weißen Mannes" zu tragen und als weißer Retter bewundert und begehrt zu werden, dabei aber weder einen Bezug zur Kolonialgeschichte noch zu globalen Machtdynamiken herstellt, personifiziert die europäisch-deutsche (neo)koloniale Amnesie.

Neben den weißen Retter*innen werden im Roman auch Mutonis Beziehungen zu anderen BIPoC in Deutschland verhandelt. Während sie als Zwangssexarbeiterin weitgehend isoliert war, ermöglicht ihr eine Scheinehe mit Bernhard Kranz, sich umfassender zu integrieren. Die Familie Kranz versucht aber auch, Mutonis Diaspora-Kontakte zu regulieren, wenn Sylvia ihr nahelegt, sich von Geflüchteten fernzuhalten bzw. diese nicht in ihr Haus zu bringen, und besser mit den Architekt*innen, Ärzt*innen und Künstler*innen der Organisation Afro fam zu interagieren. Dort geht es zwar "multikulturell zu" und Mutoni kann sich gut über afrikanische Literatur und Themen wie den Panafrikanismus unterhalten, sie fühlt sich dieser akademisch-künstlerischen Blase aber dennoch nicht ganz zugehörig. Die Bekanntschaft mit jenen Frauen, die ihre Schwestern werden, macht Mutoni erst, als sie trotz ihres Studienabschlusses dem "für Leute wie Sie" (123) vorgezeichneten Karriereweg als Pflegerin folgt:

Ich lernte viel in einem Job, der von den meisten Deutschen abgelehnt wird. Meine Routine zu Hause blieb gleich, ich erledigte die Hausarbeit und eilte dann zu meiner Arbeitsstelle. Anfangs musste ich mich daran erinnern, dass die Pflege älterer Menschen viel besser war als illegale Prostitution, die meist mit Misshandlungen bezahlt wurde. (136)

Mutoni sieht ihre Arbeit zwar als wichtig und lehrreich an, muss diese Art von Tätigkeit jedoch nun rund um die Uhr leisten. Die physischen Misshandlungen, denen sie im Rotlichtmilieu ausgesetzt war, fallen weg, wirklichen Dank erhält sie jedoch weder von der Familie Kranz noch von den Heimbewohner*innen, die sie ständig nach ihrer Herkunft fragen. Die Arbeit im Pflegeheim verschafft Mutoni aber auch größere ökonomische Unabhängigkeit und Kontakt zu der 22-jährigen Tess von den Philippinen, die einen 60-jährigen ehemaligen Entwicklungshelfer geheiratet hat; der Mittzwanzigerin Nneka aus Nigeria, die mit einem gewalttätigen Alkoholkranken verheiratet ist; und der 35jährigen Effia aus Uganda, die der Abschiebung nur durch eine bezahlte Scheinehe entgehen konnte. Dass alle weiße deutsche Männer ehelichten, um in Deutschland bleiben zu können, weist auf eine Migrationspolitik hin, die für sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge kaum Optionen bereithält. Die vier Frauen, die sich als Schwestern bezeichnen, haben sich gegenseitig versprochen, sich "nie zu verurteilen" und sich "immer zu unterstützen" (137). Es läuft insgesamt gut mit ihnen, manchmal behandeln sie Mutoni aber auch "wie eine Außenseiterin", weil sie "zu einer reichen weißen Familie" (153f.) gehört und von deren Privilegien profitiert. Ihre Schwarze Schwesternschaft ist in erster Linie eine Schicksalsgemeinschaft und nicht gleichzusetzen mit beständiger Harmonie. Es ist eine imagologische Binsenweisheit, dass jede noch so kleine identitäre "atom-unit" sich letztlich als "Fata Morgana" erweist, da Gruppen von Individuen sich immer auch durch Vielfalt, Dissens und Konflikte auszeichnen (Leerssen 2007, 338).

Ein solcher Konflikt entsteht, als Tess, die noch nicht lange in Deutschland lebt, einen Heimbewohner aufgrund seines Namens als Russen bezeichnet. Nneka weist sie darauf hin, dass Herr Gizkov Deutscher sei und sie ein "typisch deutsch[es]" (137) Verhalten an den Tag lege. Es ist den Frauen wichtig, Tess "zu erklären, dass die Abstammung von einer Nationalität nicht die eigene Identität definierte" (138). Wie Sylvia fasst auch Tess Mutonis Haare an, allerdings erst auf deren Aufforderung hin. Zunächst schockiert über ihre Äußerung, dass sie "sich irgendwie wie Wolle an[fühlen]", ob man denn "nichts dagegen machen" (138) könne, bemerkt Mutoni allmählich, dass Tess "einfach unwissend war, keine Ahnung von anderen Ethnien und Kulturen" (138) hatte. Wie bereits die im letzten Abschnitt beschriebenen kontrastiven Parallelszenen gezeigt haben, in denen Ligaya von Afrika wie von einem Land spricht und Jan von Mutonis Aussehen auf ihre Herkunft schließt, werden Ignoranz und mikroaggressives Verhalten im Roman nicht ausschließlich weißen deutschen Charakteren zugeschrieben. Das "typisch deutsche" Verhalten stellt für Nneka keinen Nationalcharakter im essentialistischen Sinne dar, sondern weist vielmehr auf ein soziales Klima in Deutschland hin, das Vorurteile und Othering – gerade auch unter Migrantisierten – begünstigt. Mutoni, Nneka und Effia machen Tess darauf aufmerksam, dass weder diese Art der Anpassung noch akzentfreies Deutsch, eine äußerliche Europäisierung oder die Staatsbürgerschaft sie in den Augen der meisten weißen Deutschen je zu einer von ihnen machen wird.

Diese realistisch abgeklärte Sicht auf das Leben in Deutschland hält Nneka nicht davon ab, zu betonen, dass trotzdem niemand Europa verlasse, "um in den Staub und zu den Moskitos Afrikas zurückzukehren, es sei denn, er wird gegen seinen Willen abgeschoben" (156). Als sie erfährt, dass Mutoni zurück nach Ruanda will, hält sie ihr – ähnlich wie schon Sylvia und in fast wortgleicher Formulierung wie Anna – vor, eine undankbare, "[v]erwöhnte Frau" zu sein:

Ach wirklich, so beschissen ist es? So furchtbar, rund um die Uhr Strom zu haben, fließendes Wasser und eine heiße Dusche, wenn man Lust darauf hat? Es ist schrecklich, auf sauberen Straßen ohne Schlamm und Staub zu laufen? Es ist scheiße, in einer Gesellschaft zu leben, in der jeder eine Krankenversicherung hat, in der es ein Sozialsystem gibt und niemand verhungern muss? Ist es das, was dich abstößt? (157f.)

Hinter Nnekas Anschuldigungen und dem Schweigen der anderen beiden Frauen verbirgt sich nicht nur das internalisierte Fremdbild der "undankbaren Migrantin", sondern vor allem auch Angst und Scham. Effia verrät, dass sie "nicht den Mut" besitze, nach Hause zu fliegen, weil sie "das Gefühl" habe, "außer Scham und Versagen nichts mitbringen" (161) zu können. Tess erinnert sie daran, dass sie in Deutschland viel erreicht habe, worauf Effia sie auf "das Bild [verweist], das die Leute zu Hause von dir in ihren Köpfen haben, wenn sie wissen, dass du in Europa lebst" (161) – ein Bild, mit dem auch Sonia Mutoni nach Europa gelockt hatte und das Nneka selbst aufrechtzuerhalten sucht, indem sie auf Instagram exzessiv Selfies postet, auf denen sie vor teuren Autos und in schicken Einkaufszentren posiert.

Mutonis Rückkehr bricht nicht nur mit den Erwartungshaltungen ihrer Kolleginnen, sondern auch mit den Konventionen neokolonialer Versklavungserzählungen wie On Black Sisters' Street und Joy, deren Protagonistinnen entweder in Europa bleiben oder nach Afrika abgeschoben werden. Dieser Bruch wird wesentlich durch Mutonis ebenfalls genreuntypische erfolgreiche Flucht aus dem Rotlichtmilieu und die Hilfe der Familie Kranz bedingt. Deren Wohltätigkeit ändert jedoch nichts daran, dass das Leben in Deutschland für Mutoni kein lebenswertes ist, da sie dort "als Problem" – wenn auch von Seiten der Kranz' als 'gelöstes' – begriffen wird. Sie kann nicht in einer Gesellschaft leben, die ihr "nicht vertraut", aufgrund ihrer "Hautfarbe Chancen verweigert" und zulässt, dass sie "mit wenig Respekt behandelt" (168) wird. Sie geht aber nicht nur wegen der Rassismen und mangelnden Perspektiven in Deutschland wieder zurück nach Ruanda, "[s]onst würde das bedeuten, Vorurteile gewinnen zu lassen" (169) – das Vorurteil der undankbaren Migrantin, aber auch jenes, das von Johannes, dem Menschenfreund, und Intores Lied Nyeganyega reproduziert wird: dass Schwarze Afrikaner*innen nicht nach Europa passen und folglich besser bleiben sollen, wo sie hergekommen sind.

Mutoni weiß sehr wohl, warum sie gekommen ist – "weil ich keine andere Möglichkeit für mich sah" (168) –, und ohne bzw. mit was sie nach Ruanda zurückkehrt. Das Zurücklassen ihrer Schuhe bringt die Entwicklung Mutonis dabei zu einem vorläufigen Ende: Sie musste sich oft die Schuhe ausziehen bzw. diese wechseln, bis sie ohne den Ballast von Erwartungshaltungen ebenso wie ohne Angst und Scham, aber dafür mit Geld, neuen Kompetenzen und gestärkter Resilienz heimkehren kann. Zurück im "Land der Mütter Courage" (Mukasonga 2022 [2008], 153) plant sie, ein eigenes Geschäft zu eröffnen und alleinerziehende Mütter, wie auch ihre Mutter eine war, dabei zu unterstützen, es ihr gleich zu tun.

Die Benennung der Möglichkeiten, die sich erst aufgrund ihres Deutschlandaufenthalts in Ruanda für sie auftun, ändert nichts an der Tatsache, dass Mutoni ihren Entschluss, zu migrieren, auf Basis einer völlig falschen Erwartungshaltung gefasst hat. Den dahinterstehenden, potenziell lebensgefährlichen Europabildern – im Roman wird angedeutet, dass viele migrierte Zwangssexarbeiterinnen aus dem Globalen Süden, inklusive Mutonis Schwester, spurlos verschwinden – möchte Mutoni etwas entgegensetzen und damit eine Kontinuität durchbrechen, die schon Theodor Michael (2022 [2013], 15) mit Blick auf die in der Kolonialgesellschaft aufgewachsene Generation seines Vaters anklagte: "Europa bzw. Deutschland erschienen wie das Gelobte Land. Wer es jedoch tatsächlich schaffte, nach Deutschland zu kommen, sah sich mit Umständen und Erfahrungen konfrontiert, die nichts mit paradiesischen Zuständen zu tun hatten." Da diese Bilder im Roman primär von nach Europa migrierten BIPoC wie Sonia und Nneka reproduziert werden, kratzt Loeper auch am 'positiven' Stereotyp einer statischen, homogenen afrikanischen Diaspora und einer bedingungslosen Solidarität unter 'Schwarzen Schwestern'.

4. Conclusio

Anlässlich des Preises der Leipziger Buchmesse 2021 kritisierte ein offener Brief, dass unter den Nominierten keine BIPoC waren. Daraufhin wurde in der Berliner Zeitung die Frage gestellt, ob denn "die Identitätszuschreibung der Autoren eine Rolle spielen [sollte], wenn man über Literatur entscheidet", und es nicht vielmehr um eine "rein professionelle, literaturkritische Entscheidung für die Bücher" gehen müsse (Geißler 2021). Dieses Gegeneinander-Ausspielen von Diversität und Qualität begegnet auch in Moritz Baßlers (2021, 146) Überlegungen zum "neuen Midcult" und "populären Realismus", dessen vermeintliche Qualität sich primär an den behandelten "Themen und Problemen, für die sich die partikularen Gruppen interessieren (loss, trauma, abuse, Misogynie, Rassismus, Kapitalismus, Flucht)", bemesse: "Jedes Kapitel 'a different pain', aber bitte in der richtigen Weise und vor allem: von den richtigen Autorinnen!" Wohlwollende Buchbesprechungen, die sich auf die authentischen Erfahrungen in Texten von BIPoC-Autor*innen und deren moralischen Impetus berufen, scheinen das zu bestätigen. Suggestivfragen an Tete Loeper, wie "ich glaube, es gibt auch Parallelen zu ihrem eigenen Leben" (Hügle 2021), oder Zeitungsartikel, die vermelden, dass die Autorin in ihrem Buch "über ihre Erfahrungen mit Alltagsrassismus" (Gareus-Kugel 2022) schreibe, bestärken eine autobiografische Lesart des Romans. Dessen Qualität würde sich dann allerdings darauf beschränken, ein "unglaublich mutiges Buch […] einer ganz mutigen Frau" (Hügle 2021) zu sein, das "eine Gesellschaft [braucht], wenn sie in Zukunft ein besseres Miteinander mit weniger Ressentiments und Rassismus leben will" (Hofele 2022).

Die Booker-Preisträgerin Bernardine Evaristo (2022, 178) sieht eine mögliche Ursache für die persistente Überbetonung der Identität von BIPoC-Autor*innen darin, dass "those who are unused to our stories feel that they are learning about our 'identities', and that skewers their perception of our creativity". Literatur kann immer auch durch das Prisma der Identität analysiert werden. Dabei sollte jedoch nicht aus dem Blick geraten, dass afrikanisch europäische Literaturen wie Barfuß in Deutschland "Teil einer Schwarzen Literaturtradition" und der "größeren Gemeinschaft […] der afrikanischen Diaspora" sind, die "heterogen [ist] und seit Jahrhunderten Wissen, Kunst und Geschichte(n) von Generation zu Generation weiter[gibt]." (Oholi 2022) Der Herausforderung, diese Schwarze Literaturtradition kennenzulernen, müssten sich Institutionen professionellen Lesens im D-A-CH-Raum erst einmal stellen, bevor sie Texte pauschal ausschließen, vorschnell aburteilen oder allein aus gut gemeinten, aber unliterarischen Gründen loben. Wesentlich seltener als nach der Rolle der Identität von BIPoC-Autor*innen wird danach gefragt, ob die Beurteilenden denn über das notwendige Fachwissen verfügen, um zu einer qualifizierten Einschätzung zu gelangen.

Bislang wurden der Mut und die moralische Qualität von Loepers Roman hervorgehoben, nicht jedoch, dass er, indem sklavereiähnliche Praxen realitätsnah aus der Perspektive einer Betroffenen erzählt werden, an die Genretradition der slave narratives anknüpft. Wie andere neokoloniale Versklavungserzählungen dekonstruiert und appropriiert Barfuß in Deutschland stereotype Europa- und Afrikabilder, verzichtet dabei jedoch weitgehend auf eine allzu geradlinige – rassisierte – Abgrenzung zwischen Retter*innen und Täter*innen. Eine der Hauptbotschaften des Romans ist, dass sich auch Menschen, die nicht rechtsradikal oder gewalttätig sind und die Mutoni selbst als ihre Freund*innen oder Retter*innen bezeichnet, rassistisch verhalten, und dass es sich bei Rassismus nicht in erster Linie um eine Charakterschwäche oder ein moralisches Defizit, sondern um ein strukturelles Problem handelt, das teilweise auch von in Deutschland lebenden BIPoC internalisiert und reproduziert wird. Das verdeutlichen die kontrastiven Parallelszenen im Roman, in denen weiße und BIPoC-Charaktere ähnlich diskriminierend, wenn auch aufgrund der weißen Privilegien nicht gleichermaßen rassistisch handeln. Subtile Referenzen auf den europäischen Versklavungshandel und Kolonialismus sowie das Anknüpfen an eine Schwarze transnationale Literaturtradition – an das Genre der slave narratives, aber auch an das Motiv der Barfüßigkeit, die Schwarze Blickumkehr bzw. Provinzialisierung von innen und das strategische Schweigen – regen zudem eine vertiefte Auseinandersetzung an: nicht nur mit dem Bild eines 'farbenblinden' Europa und deutschen Happylands voller weißer Retter*innen einerseits und böser Rassist*innen andererseits, sondern auch mit den Gründen für dessen Entstehung.

Notes

  1. Tete Loepers (Pseud. v. Divine Gashugi Umulisa) auf Englisch verfasster Roman wurde von Madeleine Walther ins Deutsche übertragen. Dieser Übersetzung ging eine Überarbeitung des Originals (2020) voraus, weshalb ich für meine Analyse die deutsche Fassung Barfuß in Deutschland von 2022 heranziehe. Zitatnachweise aus diesem Text werden folgend unter Nennung der Seitenzahlen gegeben. [^]
  2. Die Auftaktstudie zum Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor Rassistische Realitäten bestätigt, dass Rassismus in Deutschland "sowohl räumlich als auch sozial externalisiert [wird]. Große Teile der Bevölkerung lagern Rassismus als Problem des rechten Randes aus" (DeZIM 2022, 9). [^]
  3. Dirk Naguschewski (2004, 138–139) beschreibt dieses Schweigen in Ayims "Afro – Deutsch" Gedichten. [^]

Acknowledgements

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Competing Interests

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